Wirtschafts- und Währungsunion:Mark und Markt

DDR, Berlin - Waehrungsunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Buerger der DDR mit den ersten ausgegebenen DM-Scheinen am Alexanderplatz

Als die West-Mark am 1. Juli 1990 im Osten ankam, herrschte noch Euphorie. Die Probleme wurden den meisten erst später klar.

(Foto: Ullstein Bild)

Vor 25 Jahren bekam die DDR die D-Mark und den Kapitalismus. Fast nirgendwo in Deutschland haben sich Wirtschaft und Leben so radikal verändert wie in und um Bitterfeld.

Von Stephan Radomsky und Steffen Uhlmann, Bitterfeld-Wolfen

Peter Lind will nicht weg. Nicht aus Wolfen-Nord, der Plattenbausiedlung aus DDR-Zeiten, nicht aus dieser Gegend, die einst verschrien war als die schmutzigste und giftigste in ganz Europa. Er ist hier zu Hause. Und doch könnte es bald Zeit sein, zu gehen. Denn im September verliert Peter Lind, Anfang 50, seinen Job. Das ist beschlossen.

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Peter Lind heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Der Mann hat Angst. Angst davor, dass er Ärger mit seinem Noch-Arbeitgeber, dem Solar-Unternehmen Hanwha-Q-Cells, bekommen könnte. Oder dass er einen neuen Job nicht bekommt, wenn er denn überhaupt einen findet. "Gutes Geld, gutes Klima, gute Jahre", sagt Lind über die Vergangenheit. "Ich hatte eine schöne Zeit dort und habe fest daran geglaubt, dass ich bis zur Rente bei Q-Cells bleiben werde."

Heute ist Lind ein Verlierer, morgen könnte das schon wieder anders sein. Diese Region, das Mitteldeutsche Chemiedreieck zwischen Halle, Merseburg und Bitterfeld-Wolfen, ist ständig im Umbruch - seit 25 Jahren, seit am 1. Juli 1990 die D-Mark in ein Land kam, das damals noch DDR hieß, und mit ihr der Kapitalismus. Nirgendwo sonst zeigen sich Segen und Fluch dieses Systemwechsels deutlicher.

Stinkende Abwässer, giftige Schlämme

Einst war das Dreieck für die DDR so etwas wie das Ruhrgebiet für den Westen: Etwa 15 Prozent des gesamten Außenhandels erwirtschafteten die mehr als 30 000 Beschäftigten der beiden volkseigenen Großunternehmen im heutigen Bitterfeld-Wolfen, dem Chemiekombinat und der Filmfabrik Orwo.

Den Preis zahlten Natur und Menschen. Stinkende Abwässer, giftige Schlämme, Abfälle, alles einfach auf Halden und in Tagebaurestlöchern entsorgt. Gleich neben der Filmfabrik entstand der legendäre "Silbersee" mit seiner bis zu zwölf Meter dicken, von Schwermetallen verseuchten Schlammschicht. Und über der gesamten Region der Dreck der Braunkohle, giftige Rauchschwaden. "Bitterfeld, Bitterfeld, wo der Dreck vom Himmel fällt", spottete der Volksmund.

Davon ist fast nichts übrig. Das meiste Gift, der Dreck, sie sind beseitigt. Die Umwelt gilt als weitgehend saniert. Aus den Mondlandschaften der Braunkohle-Tagebaue wurden große Seen geformt und die Natur rundherum blüht auf. Die großen Dreckschleudern gibt es nicht mehr - und auch nicht die Jobs, die sie einst boten.

Die Stadt schrumpft

Das ist die Kehrseite des Großreinemachens: Bitterfeld-Wolfen hat sich zwar gehäutet, die Fassaden haben frische Farben bekommen, neue Häuser wurden gebaut. Den Exodus gestoppt hat das aber nicht. Denn mit der Ankunft der D-Mark brachen nicht nur die Kombinate zusammen, auch viele Menschen stürzten nach der ersten Euphorie in eine große Depression. Auf der Suche nach Arbeit verließen sie deshalb ihre Heimat und tun es bis heute. So schrumpfte Bitterfeld-Wolfen, seit 2007 eine gemeinsame Stadt, in den vergangenen 25 Jahren von gut 76 000 auf heute nicht ganz 42 000 Einwohner. Und treffen die Prognosen zu, werden es in zehn Jahren höchstens noch 36 000 sein.

In Wolfen-Nord, bei Peter Lind, sind die meisten schon weg. Heute leben nicht einmal mehr 10 000 Leute hier, zu DDR-Zeiten war die Neubausiedlung noch Heimat für dreimal so viele Menschen. Gewachsen ist hier seitdem nur eines: das Durchschnittsalter. Und "saniert" wurden die meisten Wohnblöcke nur mit der Abrissbirne. Als die Kaufland-Kette hier in den 90er-Jahren einen riesigen Markt errichtete, stand das Gebäude noch im Zentrum der Siedlung. Heute ist die Umgebung eine grüne Wiese - und Kaufland plant den Umzug, auf ein anderes Areal in Wolfen-Nord, dorthin wo noch jemand wohnt.

"Wir sind attraktiv auch für junge Leute", sagt Bitterfeld-Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust dennoch, trotzig, mantraartig. Nur: Die Bitterfelder Gymnasiasten und Berufsschüler wissen das offenbar nicht. Laut einer Umfrage wollen mehr als 90 Prozent von ihnen weg von hier. Weg aus einem der alten Industriezentren Deutschlands, das schon seit dem 19. Jahrhundert Chemie-Standort ist. Der erste Röntgenfilm, der erste Farbfilm, die erste Chemiefaser stammten von hier. "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit", hieß es im DDR-Volksmund.

Kein Sinnbild für den öden Osten

Das ist lange her. Die Arbeitslosigkeit im Landkreis Anhalt-Bitterfeld lag vergangenes Jahr sogar noch leicht über dem Schnitt von Sachsen-Anhalt, jenseits der Zehn-Prozent-Marke. Im Bundesdurchschnitt lag die Quote nur bei 6,7 Prozent, in Bayern erreichte sie 3,8 Prozent.

Zum Sinnbild für den öden Osten taugen die Stadt und das Dreieck trotzdem nicht. Es gibt hier Jobs und erfolgreiche Unternehmen: Allein auf dem Areal des ehemaligen Chemiekombinats haben sich bis heute mehr als 360 Betriebe angesiedelt, etwa 12 000 Menschen gehen hier, im sogenannten Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, jeden Tag zur Arbeit. Und eine wachsende Zahl der Unternehmen klagt, dass ihnen der Nachwuchs fehlt.

"Ich habe immer an die Zukunft des Standorts geglaubt", sagt Michael Polk, Geschäftsführer des Chemieparks. Er stammt aus Hannover, "rübergemacht" hat er schon kurz nach der Wende. Damals analysierte er im Auftrag der Treuhandanstalt Umwelt und Boden in Bitterfeld und Wolfen. Heute hat Polk seinen Arbeitsplatz im ehemaligen Büro des Generaldirektors. "Der 'General' ist längst weg und mit ihm auch das Kombinat", sagt Polk. "Dafür sind aber jetzt andere Unternehmen da."

Entlassungswelle und "schlimme Zeiten"

Das hat gedauert. Den Systemwechsel bezahlten erst einmal Tausende Arbeiter im Chemiedreieck mit ihrem Job. Allein in den Betrieben im damaligen Kreis Bitterfeld waren bis 1989 fast 75 000 Menschen beschäftigt. Schon ein Jahr später wurden 39 besonders umweltbelastende Betriebe geschlossen. Es folgten mehr und mehr Stilllegungen und damit eine von den Bitterfeldern und Wolfenern nie geglaubte Entlassungswelle. "Schlimme Zeiten", sagt Gerhard Köhler, 59. "Aber anders hätte sich der Standort hier nicht erholt."

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler stammt aus Aschersleben, gut 70 Kilometer nordwestlich von Bitterfeld-Wolfen. Dass er als Gründer und Chef mit seiner Ordo Net AG Erfolg hatte, verdankt er auch seiner Leidenschaft, dem Schachspiel: "Beute zur rechten Zeit. Und wenn das nicht möglich ist, opfern Sie, ohne Selbstmitleid und ohne Tränen", fasst Köhler seine Lehre daraus zusammen.

Tränen flossen allerdings reichlich, bei den einst 15 000 Beschäftigten der "alten" Orwo. Hinter dem Kürzel für "Original Wolfen" stand die bis zur Wende größte Filmfabrik Europas. Doch dann kam die D-Mark und etwas später auch noch die Digitalfotografie. Beides zusammen überlebte der einstige Vorzeigebetrieb nicht, 1994 wurde das Kombinat abgewickelt. "Zurecht", wie Köhler findet. "Mit vier Mark pro Filmentwicklung und 1,70 Mark pro Farbabzug stand Orwo nach der Währungsunion auf verlorenem Posten."

Rettung, zumindest für einen kleinen Teil der Belegschaft, versprach die Gründung von Pixelnet. Das Unternehmen setzte früh auf digitale Fotografie und wuchs so zu einem der Börsenstars am Neuen Markt heran. Als sich die Aktien-Euphorie kurz nach der Jahrtausendwende aber plötzlich abkühlte und die Börsenblase platzte, war auch Pixelnet am Ende. 2002 war das. Ein Jahr später zog Köhler mit gerade noch 33 Mitarbeitern in das viel zu große Orwo-Gebäude ein.

Er hatte das digitale Fotolabor aus der Insolvenzmasse von Pixelnet übernommen, dazu den Markennamen Orwo. "Das digitale Geschäft boomte", sagt er. "2003 gab es in Deutschland noch 45 Großlabore. Aber nur die wenigsten hatten schon in digitale Technik investiert." Heute sind nur noch acht Anbieter übrig - und Köhlers Orwo Net gehört als zweitgrößter Foto-Dienstleister Deutschlands mit vier Standorten und mehr als 330 Mitarbeitern dazu. 50 Millionen Euro Umsatz peilt er für dieses Jahr an, bis spätestens bis 2020 soll es doppelt so viel sein.

Das Solar Valley soll sich neu erfinden

Aufbruch und Niedergang liegen in Bitterfeld-Wolfen vier Kilometer auseinander. So weit ist es von der Orwo-Net-Zentrale bis zum einstigen Solar-Star Q-Cells. Mit dem geht es dem Ende entgegen, fürchtet Peter Lind. Seine Enttäuschung sitzt tief. "Wir waren doch mal mit über 3000 Beschäftigten mit Abstand die Nummer eins hier in Solar Valley", sagt er. Vorbei, spätestens seit 2012. Jahrelang war das "Solar Valley", ein Industriegebiet auf dem platten Land mit eigener Autobahnauffahrt zur A 9, mit zig Millionen an Subventionen gepäppelt worden. Genutzt hat es nichts, wie sich zeigte.

Denn 2012 beantragte Q-Cells, der Platzhirsch in Sachsen-Anhalts "Sonnental", Insolvenz. Die Produktion von Solarzellen brachte nicht mehr genug ein, die Rivalen aus Fernost waren billiger - auch weil sie noch höhere Subventionen bekommen, wie die Branche klagt. Q-Cells wurde zwar vom koreanischen Konzern Hanwha aufgefangen, doch innerhalb kurzer Zeit zum Zwerg "verschlankt". Spätestens im September endet die Produktion von Solarzellen hier nun ganz. Dann eben, wenn Peter Lind und 470 seiner Kollegen ihren Job verlieren werden.

Was dann aus den übrigen gut 400 Beschäftigten wird, ist unklar. Lind ist, was deren Zukunft angeht, jedenfalls skeptisch: "Wer nicht produziert, will über kurz oder lang ganz dicht machen", glaubt er und spendet sich damit auch ein bisschen selbst Trost: "Zumindest bei der Jobsuche habe ich jetzt Vorsprung."

Wo ihn der hinführt? Offen. Das Solar Valley soll sich jedenfalls "neu erfinden", heißt es. "Aber diesmal ohne öffentliche finanzielle Fehlförderung", wie man bei der regionalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft betont. Kapitalismus und Planwirtschaft nebeneinander funktionieren eben nicht - egal ob die Entscheidungen per Fünf-Jahres-Plan oder Fördertopf vorgegeben werden. Zumindest so viel ist nun, nach 25 Jahren leben und wirtschaften im Umbruch, endgültig klar.

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