Die Rente:Aufhören - aber wann?

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Männer und Frauen leben länger, deshalb sollten sie auch länger arbeiten. Eine neue Rentenformel muss her.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Es geht zunächst um eine gute Nachricht: Die Deutschen leben immer länger. Neugeborene Jungen haben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes inzwischen eine Lebenserwartung von 78 Jahren und zwei Monaten. Bei Mädchen sind es sogar 83 Jahre und ein Monat. Die Lebenserwartung hat sich damit im vergangenen Jahrzehnt um gut zwei Jahre bei den Jungen und etwa 18 Monate bei den Mädchen erhöht.

Das längere Leben hat jedoch finanziell dramatische Konsequenzen: Wer ein Jahr länger auf der Welt ist, bekommt auch ein Jahr länger Altersgeld. Seit 1960 haben sich die Laufzeiten der Rente in Deutschland verdoppelt. 2015 erhielten Männer im Durchschnitt fast 19 Jahre die Rente, Frauen fast 23 Jahre. Zugleich wurden seit Anfang der 1970er-Jahre zu wenig Kinder geboren, um genug neue Beitragszahler für die Rentenversicherung zu haben.

Was also tun? Braucht Deutschland nach der Rente mit 67 auch die Rente mit 69. Oder sollen es am Ende gar 71 oder 73 Jahre sein?

Franz Ruland, einst Chef der gesetzlichen Rentenversicherung, schreibt in einem Aufsatz: Ein Heraufsetzen der Altersgrenze für die Zeit nach 2030 dürfe "kein Tabu" mehr sein. Sicher ist: Ein höheres Regeleintrittsalter für den Ruhestand dürfte ein Thema für den Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr werden.

Norwegen, Dänemark, Italien und die Niederlande sind bereits weiter als Deutschland

Derzeit gehen Arbeitnehmer im Normalfall mit 65 Jahren und fünf Monaten in Rente. Diese Regelaltersgrenze wird schrittweise auf 67 Jahre bis 2031 erhöht. Das reicht aber vielen Experten nicht. In diesem Jahr hat sich eine breite Allianz formiert, die - unabhängig voneinander - mehr fordert.

Im April ging es los mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der schon immer in Richtung Rente mit 70 drängte. Er plädiert dafür, "Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit in einen fast automatischen Zusammenhang auch in der Rentenformel zu bringen". Im August folgte die Bundesbank. Die Banker schlagen vor, das Renteneintrittsalter von 2030 in Schritten auf 69 Jahre zu erhöhen. Ihrem Modell zufolge würden dann "erstmals im Jahr 2064 Personen im Alter von 69 Jahren (Geburtsjahrgang 1995) in Rente gehen".

Kurz danach meldeten sich die Wirtschaftsweisen. Die Regierungsberater sprechen sich dafür aus, das Rentenalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln: "Dies würde bis zum Jahr 2080 bei einer Lebenserwartung von 88 Jahren für Männer und 91 Jahren für Frauen zu einem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 71 Jahren führen", heißt es in ihrem Jahresgutachten. Auch für den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat es "höchste Priorität, die Lebensarbeitszeit an die Gesamtlebenszeit anzupassen". Man könnte zum Beispiel alle fünf Jahre die zukünftige gewonnene Lebenserwartung im Verhältnis 2:1 auf zusätzliche Arbeits- und zusätzliche Rentenjahre aufteilen, empfahl der Beirat.

Norwegen, Dänemark, Italien und die Niederlande haben bereits die Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung gekoppelt. Für den Rentenexperten Ruland hat diese Lösung Charme: Sie sei "für die künftige Entwicklung offen und damit auch politisch leichter durchzusetzen". Die Arbeitnehmer, die länger arbeiten müssten, würden "zusätzliche Rentenansprüche erwerben und damit eine Absenkung ihres Rentenniveaus ganz oder teilweise auffangen können". Werde auch länger in eine private oder betriebliche Altersvorsorge eingezahlt, käme dabei auch mehr heraus, argumentiert Ruland. Außerdem müsste der Anstieg des Beitragssatzes nicht so hoch ausfallen. Auch sei der Wachstumseffekt positiv, da sich durch die verlängerte Lebensarbeitszeit allein das Potenzial an Erwerbspersonen bis 2040 um bis zu 700 000 erhöht. Und das Rentenniveau würde von etwa 48 Prozent eines Durchschnittslohns nach 45 Beitragsjahren nicht so stark sinken. Ohne Gegenmaßnahmen würde es nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums bis 2045 auf 42 Prozent fallen.

Ruland warnt aber, den Spareffekt für die Rentenversicherung zu überschätzen. Steigende Altersgrenzen bewirkten "keine Wunder". Schließlich zahlten die Versicherten dann "länger Beiträge, erwerben dafür auch höhere Rentenanwartschaften".

Politiker in der CDU und CSU-Chef Horst Seehofer können sich mit so einem Modell offenbar zunehmend anfreunden. Die SPD, der viele (frühere) Wähler die Einführung der Rente mit 67 ankreiden, lehnt eine Anhebung der Eintrittsgrenzen kategorisch ab. "Das würde nur eine Rentenkürzung bedeuten für alle, die nicht so lange durchhalten und Abschläge in Kauf nehmen müssen", sagt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD).

In körperlich anstrengenden Berufen ist es oft nicht zu schaffen, bis 65 durchzuhalten

Derzeit schaffen viele nicht einmal die Rente mit 67. Arbeitnehmer kommen im Durchschnitt auf 37 Beitragsjahre, nicht auf 45 und schon gar nicht auf 47 Jahre. Nur jeder Sechste ist mit 64 Jahren noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Etwa jeder fünfte Neu-Rentner hat vorzeitig mit dem Arbeiten aufgehört, weil sie oder er zu krank für einen Job sind. Diese Erwerbsminderungsrentner verabschieden sich im Durchschnitt bereits mit 50 Jahren unfreiwillig aus dem Arbeitsleben. Für den Deutschen Gewerkschaftsbund ist daher klar: In vielen, körperlich anstrengenden Berufen ist es einfach nicht zu schaffen, bis 65 durchzuhalten.

Johannes Geyer und Peter Haan vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) raten deshalb dazu, die Kopplung des Regeleintrittsalters an die Lebenserwartung "sozialverträglicher zu gestalten", um die Altersarmut nicht steigen zu lassen und das Vertrauen ins Rentensystem zu erhalten. Die Politiker müssten das Renteneintrittsalter stärker flexibilisieren. "Starre Altersgrenzen werden dem zukünftigem Bedarf nicht gerecht", sagen die DIW-Wissenschaftler. Arbeit mit einer Teilrente zu kombinieren, müsse auch vor dem 63. Lebensjahr möglich sein. Nötig seien Lösungen, "die es Beschäftigten erlauben, auch im höheren Alter ihren Beruf noch einmal zu wechseln". Die Erwerbsminderungsrenten, die derzeit oft nicht zum Leben reichen, müssten einen "ausreichend hohen Einkommensschutz bieten".

Mit so einem Gesamtkonzept ließe sich die Rente mit 69 sicherlich leichter durchsetzen. Allerdings würde das auch Geld kosten. Der positive finanzielle Effekt eines höheren Renteneintrittsalters wäre dann natürlich nicht mehr so groß.

© SZ vom 06.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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