Deutschland in der Krise:"Dieser Landkreis ist systemrelevant"

In Esslingen kann man die Krise besichtigen: Viele große Maschinenbauer und Autozulieferer sind hier zu Hause.

Dagmar Deckstein

"Wir alle haben Angst, eine Riesenangst." Frank Böhringer, Vorsitzender des DGB-Ortsverbands Esslingen, darf das mit Fug und Recht behaupten.

Protest bei Putzmeister, IGM

Protest bei Putzmeister: 580 Mitarbeiter wollte der Hersteller für Betonpumpen entlassen. Inzwischen ist das Management von der Idee abgerückt.

(Foto: Foto: IGM)

Die Gewerkschaften haben am Mittwochabend ins alte Rathaus eingeladen, auf dass die Esslinger den Werbern um ihre Wählergunst auf den Zahn fühlen können. Beim "großen Kandidatenprüfen" diktiert die Angst auch die Themen: Armut und Hartz IV, Mindestlohn und Kurzarbeit, Rente und Steuern.

Abgrundtiefe ideologische Gräben wie man sie noch in früheren Wahlkämpfen besichtigen konnte, tun sich bei dieser Wahlveranstaltung anno 2009 in der schwäbischen Kreisstadt nicht auf.

Karin Roth, SPD, Markus Grübel, CDU, Andrea Lindlohr von den Grünen und Annette Groth von den Linken sind sich mit ihren potentiellen Wählern weitgehend einig: So schnell wie möglich raus aus der Krise, schnell wieder zurück zur Vollbeschäftigung.

Zahnfühlen im Fachwerkhaus

Sozial gerecht soll es zugehen, gerne auch mit Mindestlohn, höheren Hartz-IV-Sätzen und zur Not auch Wiedereinführung der Vermögensteuer. Angst macht kleinlauter, schweißt zusammen. Für etwas mehr Dissens hätte wohl die FDP-Kandidatin Rena Farquhar gesorgt, hätte sie nicht wegen der nahenden Geburt ihres zweiten Kindes die Veranstaltung abgesagt.

Das prächtige, rotgetünchte Fachwerkhaus aus dem frühen 15. Jahrhundert, in dessen Bürgersaal das Zahnfühlen stattfindet, hat jedenfalls schon ganz andere Kämpfe und Kriege gesehen.

Das Rathaus ist mit der ältesten funktionierenden schmiedeeisernen Turmuhr Deutschlands ausgestattet, die nun der Grünen Andrea Lindlohr ins Wort schlägt, die sich gerade für einen europaweiten Mindestlohn ausspricht.

Das mittelalterlich geprägte Esslingen präsentiert sich gerne mit dem schmückenden Zusatz die "Perle des Mittleren Neckarraums". Aber die Perle ist im Krisenjahr 2009 ziemlich matt geworden.

Fatale Schwäche

Die bisherige große Stärke des nach Stuttgart zweitbedeutendsten schwäbischen Wirtschaftsstandorts ist zur fatalen Schwäche mutiert. Wie in einem Brennglas ist die allgemeine Wirtschaftskrise des ehemaligen Exportweltmeisters Deutschland in dieser Region besonders deutlich zu besichtigen.

Gerade die Branchen, die vom Auftragsschwund besonders hart getroffen wurden (bei manchen sind die Bestellungen bis zu 80 Prozent eingebrochen), bildeten über Jahre hinweg den einzigartigen Esslinger Erfolgsmotor: Maschinenbau und Automobilzulieferer.

Im Landkreis Esslingen mit seinen 500.000 Einwohnern arbeiten 40 Prozent der Beschäftigten in der angeschlagenen Maschinenbaubranche. In der Stadt Esslingen, der Wiege der Industrialisierung im Südwesten, verdienen fast die Hälfte der 42000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ihr Brot in krisengebeutelten Unternehmen - noch.

Denn das Damoklesschwert der Massenentlassungen schwebt über der Neckarstadt, wenn die Krise anhält und die Betriebe mit ihrem Kurzarbeitslatein am Ende sind.

Der Einbruch traf Esslingen besonders hart

Es wimmelte von Weltmarktführern

Die Metallindustrie in Esslingen erblühte in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die erste Eisenbahnlinie in Baden-Württemberg gebaut wurde und von Ludwigsburg über Stuttgart bis zur Endstation Esslingen führte.

In dieser Zeit bis in die Gründerjahre und den Anfang des 20.Jahrhunderts hinein wurden viele Weltmarktführer aus der Maschinenbau- und Zulieferbranche gegründet, von denen es in Baden-Württemberg nur so wimmelt: der Standheizungs- und Abgasspezialist Eberspächer, Festo mit seiner Automatisierungstechnik, Müller-Weingarten, der inzwischen zum Göppinger Nachbarn Schuler gehörige Pressenhersteller, die Index-Traub-Gruppe, die Drehspindelmaschinen und -automaten für Produktionsbetriebe herstellt.

In den Esslinger Vororten Mettingen, Sirnau und Brühl finden sich Ableger des Untertürkheimer Motorenwerks von Mercedes, wo 7500 Beschäftigte Getriebe, Achsen und Motoren zusammenbauen.

Vorzeigefirmen im Bann der Krise

Alle diese selbstbewussten Vorzeigefirmen sind längst in den Bann der Weltwirtschaftskrise geraten, die meisten haben schon im Dezember letzten Jahres Kurzarbeit eingeführt und hangeln sich von Auftrag zu Auftrag.

Eine hohe Exportquote - bislang eine unversiegbar scheinende Auftragsquelle - wirkt sich bei den konjunkturempfindlichen Branchen wie Maschinenbau und Werkzeugbau besonders verheerend aus, wenn die gesamte Weltwirtschaft in die Krise gerät.

Esslingens Wirtschaft steht vor einer Herkulesaufgabe: Sie muss einerseits ihre Innovationskraft sowie Produktionskapazitäten vorhalten, damit sie im Aufschwung wieder vorne mit dabei ist, andererseits müssen die Firmen alle Register ziehen, um liquide zu bleiben.

Immerhin, ein Teil Herkulesaufgabe scheint fürs Erste erledigt: Die Arbeitslosenquote in der Stadt Esslingen stieg zwar stetig - von 4,8 Prozent im Mai auf 5,4 Prozent Ende August. Im Landkreis lag sie zuletzt bei 5,1 Prozent nach 4,8 Prozent im Juli.

Grösster Einbruch, seit sie denken können

Das sind aber vergleichsweise moderate Werte. Wenn es nach den Plänen einer Reihe von Unternehmen gegangen wäre, hätten sich im August schon fast sechs Prozent der Beschäftigten in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit wiedergefunden.

Düsterer sieht die Krisenbilanz aus, die Oberbürgermeister Jürgen Zieger, SPD, in diesen Tagen zieht. Der 54-Jährige ist im Neuen Rathaus anzutreffen, schräg gegenüber dem alten roten, das aber so neu auch nicht mehr ist: Der OB residiert im ehemaligen Stadtpalast des Freiherrn Gottlieb von Palm, erbaut Mitte des 18. Jahrhunderts.

Er findet sich zur Zeit in der Rolle des Sisyphos wieder. Vor elf Jahren, als Zieger zum OB gewählt wurde, fand er einen Schuldenberg von 90 Millionen Euro vor. Der wurde bis zum vergangenen Jahr auf 2,5 Millionen Euro abgetragen, befördert durch die üppigen Gewerbesteuereinnahmen aus den Boomjahren. Jetzt aber steht Sisyphos Zieger "vor dem größten Einbruch, seit wir denken können".

Freibad soll geschlossen werden

Statt der geplanten 60 Millionen fließen dieses Jahr nur noch 17 Millionen Euro Gewerbesteuern in die Stadtkasse. Esslingen komme nicht darum herum, 70 Millionen Euro neue Schulden aufzunehmen, um die Krise durchzustehen, meint Zieger. Und auch nicht um Sparmaßnahmen, die der Gemeinderat in diesem Herbst heiß diskutieren wird.

Auf der 90-Projekte-Liste der Rathausspitze stehen geplante Einschnitte von der Schließung eines Freibads über die von Stadtteilhallen und soziokulturellen Zentren bis hin zur Verschiebung der WC-Renovierung auf der Esslinger Burg mit ihrem Dicken Turm, dem Wahrzeichen von Esslingen.

Aber "das Kind mit dem Bade ausschütten" und nur eisern sparen kommt für Zieger auch nicht in Frage: "Was wir für die Zukunft mehr denn je brauchen, sind Investitionen in Bildung und Betreuung."

Damoklesschwert über Esslingen

Sieben magere Jahre stehen bevor

Also sollen zehn Millionen der neuen Kredite in den Ausbau von Kindergärten und Ganztagsschulen fließen. Dazu werden die neun Hauptschulen Esslingens geschlossen und in fünf neue Werkrealschulen umgewandelt, eine baden-württembergische Sonderform der Hauptschule mit der Möglichkeit, die Mittlere Reife zu erwerben.

Esslingen und sein OB haben sich für sieben magere Jahre gewappnet: "So lange", sagt Zieger, "werden wir brauchen, bis wir das Niveau von 2007 wieder erreicht haben."

In ähnlichen Zeiträumen denkt auch Sieghard Bender, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Esslingen. "Wir bekommen 2011 bestenfalls die Auftragslage von 2003 wieder." Die Arbeitsgruppe um Bender, die seit Monaten von einem Brandherd zum nächsten ausrückt, sitzt in einem rotgetünchten Gebäude, im Gewerkschaftshaus an der Julius-Motteler-Straße.

Schwerstarbeit für die Gewerkschaftler

Während ein Großteil der Mitglieder in diesen Krisenzeiten kurzarbeitet, verrichtet das Metaller-Team Schwerstarbeit. Bender, der 15 Jahre lang IG-Metall-Aufbauarbeit in Chemnitz geleistet hat, ist erst seit zwei Jahren wieder zurück in Esslingen.

Bekannt für seine zuweilen ungewöhnlichen Methoden, haben er und sein Team beim Ausbruch der Krise im vergangenen Herbst die Devise ausgegeben: "Lieber Stunden entlassen als Menschen."

Immer nach dem Motto: Selbst "Kurzarbeit Null" ist besser als arbeitslos. Auf diese Weise, immerhin, haben sie es geschafft, dass 1500 Beschäftigte weiterhin in Lohn und Brot stehen bei ihren Firmen, wenn es durch Arbeitszeitverkürzungen auch einige hundert Euro weniger Lohn sind, die jetzt monatlich im Geldbeutel stecken.

Schon im Frühjahr wollte der Maschinenbauer Index-Traub 500 von 2000 Esslinger Beschäftigten vor die Tür setzen. Aber dann haben sich Geschäftsleitung und IG Metall nach wochenlangen Verhandlungen auf einen ergänzenden Tarifvertrag geeinigt.

Kurzarbeiter verzichten auf Weihnachtsgeld

Bis Ende Januar 2010 besteht nun Kündigungsschutz, die kurzarbeitende Belegschaft verzichtet auf die Hälfte ihres Urlaubs- und Weihnachtsgeldes, die andere Hälfte wird gleichmäßig auf die Beschäftigten verteilt.

Wird die Lage bis ins kommende Frühjahr hinein nicht besser, gibt es für die Index-Mitarbeiter das Angebot, in eine Transfergesellschaft zu wechseln, die ihnen neue Jobchancen eröffnen soll.

Oder Putzmeister. Auch der Weltmarktführer für Betonpumpen im benachbarten Aichtal ist 2009 tief in die Baukrise gestürzt, 580 von 3500 Beschäftigten sollten entlassen werden. Der Plan ist inzwischen vom Tisch, nachdem beim nicht tarifgebundene Baumaschinenhersteller erstmals in seiner 50-jährigen Geschichte rote Metallerfahnen vor dem Werkstor wehten.

Jetzt ist auch die Putzmeister-Geschäftsleitung von ihren Entlassungsplänen abgerückt: Die Mitarbeiter bleiben an Bord, verzichten aber auf ihre Erfolgsbeteiligungen und tariflichen Einmalzahlungen. Auch will Putzmeister jetzt mit der IG Metall eine Tarifbindung eingehen; eine betriebliche Tarifkommission wurde bereits gewählt.

Hustet ein Autohersteller, drehen alle durch

"Dieser Landkreis ist systemrelevant", poltert IG-Metall-Sekretär Andreas Streitberger. Und der langjährige Index-Betriebsrat Giovanni Conforti sekundiert ihm: "Wenn irgendein Autohersteller hustet, drehen alle gleich durch und überbieten sich in öffentlichkeitswirksamen Rettungsaktionen. Aber unser hochinnovativer Maschinenbau, der Knowhow-Träger, das industrielle Rückgrat im Kreis, der fällt bei den Politiker systematisch unter den Tisch."

So will sich die IG Metall auch nicht länger auf einzelbetriebliche Rettungseinsätze beschränken, sie macht sich für einen Regionalfonds stark: Ein Gremium, in dem Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter und Abgeordnete der öffentlichen Hand sitzen, soll einen Rettungsfonds für die Unternehmen aus der Region verwalten.

Mit dem Latein am Ende

500 Millionen Euro vom Bund, meint Gewerkschafter Bender, reichten schon. Auch der CDU-Kandidat Markus Grübel findet die Idee gut und ist deswegen schon bei der Bundeskanzlerin vorstellig geworden. Mehr als ein freundliches Nicken erntete er nicht.

Bender hält die Abwehr des Damoklesschwerts über Esslingen nur noch politisch für lösbar: "Die Geschäftsführungen sind mit ihrem Latein eigentlich am Ende."

Was kommt nach der Aktion Überwinterung, wenn die Beschäftigungssicherungsverträge auslaufen und die Kurzarbeit über das dahingeschmolzene Eigenkapital der Betriebe auch nicht mehr hinweghilft? Was passiert, wenn Insolvenzen und Massenentlassungen über Esslingen hereinbrechen? Dann, so Bender, bestehe die Gefahr, dass hier die Deindustrialisierung Deutschlands ihren Anfang nimmt.

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