Deutsche Konjunktur:Uns geht's zu gut

Billiges Öl, schwacher Euro, niedrige Zinsen: Die Wirtschaft läuft und läuft. Diese Superkonjunktur ist gefährlich - sie bremst Innovationen von morgen.

Von Markus Balser, Karl-Heinz  Büschemann und Helmut Martin-Jung, München/Berlin

Der Autokonzern hatte große Pläne. Zwei Milliarden Euro gab BMW schätzungsweise für die Entwicklung von Elektroautos aus, mit denen das Unternehmen in die Zukunft der Mobilität rollen wollte. In ihrem Werk in der Nähe des Leipziger Flughafens zogen die Münchner eine eigene Fertigung für stromgetriebene Pkw auf. Doch die beiden Fließbänder, auf denen der Kleinwagen i3 und die Luxuskarosse i8 gebaut werden, laufen nur in langsamem Takt. Weder der Konzern noch die Kunden haben es eilig mit dem Auto der Zukunft.

In Deutschland fehlt die nötige Infrastruktur für das Elektroauto. Auch die Autobranche macht lieber weiter wie bisher. Zu gut läuft das Geschäft mit herkömmlichen Autos. Es ist paradox. Die deutsche Konjunktur läuft wie geschmiert, auch dank niedriger Ölpreise. Der schwache Euro treibt die Exporte in die Höhe. Die Autokonzerne von BMW bis Volkswagen melden einen Rekord nach dem anderen.

Nur das Geschäft mit der Zukunft läuft nicht. Die Autokäufer entscheiden sich für Benzin- und Dieselautos mit so viel PS wie nie. Neue Technologie muss warten. "Billiges Benzin und Diesel treiben den Wunsch nach mehr PS, mehr SUV und lassen alternative Antriebe verkümmern", beklagt Ferdinand Dudenhöffer von der Universität Duisburg Essen. Vielen Herstellern ist das egal. Autos verkaufen sie in jedem Fall.

Der Wirtschaft geht es blendend. In den vergangenen Monaten haben viele Ökonomen ihre Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft 2015 auf zwei Prozent oder mehr erhöht. Auch die Stimmung der Firmen hat sich zuletzt fünfmal in Folge verbessert, wie aus der Umfrage des Münchner Ifo-Instituts unter etwa 7000 Managern hervorgeht. Der deutsche Export läuft auf Hochtouren. Der Slogan "Made in Germany" hat wieder Zugkraft. Das US-Magazin Newsweek beschwört gar schon das "deutsche Jahrhundert".

Doch ausgerechnet in diesem rasanten Erfolg sehen Experten für die deutsche Wirtschaft den größten Grund zur Sorge. Er wird zur Gefahr für eine Volkswirtschaft, die doch immer dann am besten war, wenn sie unter Druck stand. Die deutsche Autoindustrie hat sich zur besten der Welt entwickelt, weil stetig steigende Ölpreise den Herstellern Höchstleistungen abverlangte. Maschinenbau und Chemie, Stützen der deutschen Volkswirtschaft, schafften unter dem Druck hoher Ölpreise neue Verfahren, um die immer teurere Energie immer effizienter einzusetzen. Es war ein weltweites Erfolgsmodell.

Doch bei niedrigen Ölpreisen und einer EZB-Krisenpolitik, die Zinsen und Euro auf Tiefstände brachte, schwindet der gesunde Druck auf die Industrie. Bei Ökonomen geht die Sorge um, dass sich die Firmen auf ihren florierenden Geschäften ausruhen und Investitionen immer weiter in die Zukunft verschieben. Weil auch der Staat angesichts sprudelnder Steuereinnahmen zu wenig in die Infrastruktur des Landes investiert, trägt selbst er in guten Jahren dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mindern.

File photo of a worker controling Mercedes cars at a shipping terminal in the harbour of the German northern town of Bremerhaven.

Deutschlands Exporte laufen wie verrückt, wie der Verladeplatz für Autos in Bremerhaven zeigt. Das hat nicht nur Vorteile.

(Foto: Fabian Bimmer/Reuters)

In der Vergangenheit hätten steigende Ölpreise und ein scharfer Wettbewerb mit den Anbietern aus dem Ausland die Wirtschaft hierzulande zur Höchstleistung angestachelt, von der sie heute profitiere, sagt Oliver Koppel, Experte für Innovation beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Lasse der Druck nach, büße das Land seinen Vorteil, der gerade darin besteht, in der Produktion Ressourcen besonders effizient einzusetzen.

"Wenn wir jetzt nicht investieren, verlieren wir irgendwann den Anschluss."

Wie schnell das Pendel zurückschlagen kann, weiß Philipp Gerbert von der Unternehmensberatung Boston Consulting Group. Seit Jahrzehnten analysiert die internationale Beratungsfirma, was erfolgreiche Konzerne und Länder ausmacht. Eine starke Währung sei ein positiver Stressfaktor für die Wirtschaft gewesen, "der die Innovation treibt und der Deutschland historisch erfolgreich gemacht hat", so Boston-Berater Gerbert. "Wenn durch den schwachen Euro der Druck auf die Produktivität nachlässt, kann das gefährlich sein." Die Investitionen zur Steigerung der Produktivität könnten nachlassen. "Das kann Auswirkungen haben auf die Wettbewerbsfähigkeit von morgen, weil Unternehmen unter solchen Bedingungen erfahrungsgemäß zurückfallen."

Ähnliches befürchten die Experten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages in Berlin. "Dass der Euro heute fast 20 Prozent weniger Wert ist als im vergangenen Jahr, verbessert die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen ohne ihr Zutun", sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Volker Treier. Die Folge: Deutsche Produkte sind plötzlich günstiger - auch ohne schmerzhafte Reformen in Politik und Unternehmen. Nur wie lange noch?

Im Verband geht die Sorge um, dass der Aufschwung schnell in Gefahr gerät, wenn das Land nicht umsteuert. "Wir kümmern uns zu wenig um den Wohlstand von morgen", warnt Treier. In der langen Phase des Erfolgs laufe Deutschland gerade Gefahr, Weichen falsch zu stellen. In den jetzigen Boomzeiten tue das Land kaum mehr als das Allernötigste, um den internationalen Vorsprung zu halten. "Die schwache Investitionstätigkeit in Deutschland - sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich - gibt Anlass zur Sorge", sagt Treier. Die zähen Fortschritte der Energiewende seien nur ein Beispiel. Auch für den Telekomsektor und die Verkehrsinfrastruktur werde zu wenig getan. Treiers Warnung: "Wenn wir jetzt nicht investieren, verlieren wir irgendwann den Anschluss."

Die Investitionsquote in Deutschland ist zu gering. Während Deutschland zuletzt gut 17 Prozent seiner Wirtschaftsleistung investiert hat, waren es im Schnitt der anderen Industrieländer deutlich mehr. In Österreich 27 Prozent und in Schweden 21 Prozent. Die Folgen sind schon zu spüren.

Andere Nationen würden besser, warnt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Ausgerechnet jetzt, wo mit der digitalen Revolution die Claims für den Wohlstand von Morgen abgesteckt werden.

"Es ist in guten Zeiten einfacher, die richtigen Signale zu setzen."

Im neuesten Innovationsindikator eines Konsortiums führender deutscher und internationaler Forschungsinstitute haben Länder wie Norwegen und Taiwan die deutsche Wirtschaft überholt. Andere Länder investieren kräftig in Forschung und Entwicklung und haben dabei gerade auch die traditionellen deutschen Stärken im Visier, also Fahrzeuge, Maschinen- und Anlagenbau, Chemie und Umwelttechnik, heißt es in dem Papier. Beim Ausbau der digitalen Infrastruktur sind Deutschland und Europa bereits ins Hintertreffen geraten. Doch vom Wandel, den die Digitalisierung auslöst, bleibt keine Branche verschont - bloß fehlt es angesichts voller Auftragsbücher bei vielen noch an der Einsicht, dass sie selbst mehr tun müssten: Dinge wie Cloud-Computing, also das Verlagern von Rechenaufgaben und Speicherdiensten in Rechenzentren, hielten viele Mittelständler noch immer für "Gedöns", klagt Christian Illek, bis vor kurzem Chef von Microsoft Deutschland und Vorstandsmitglied im IT-Branchenverband Bitkom. Besonders verbreitet ist die Abwehrhaltung bei den Chefs kleiner Unternehmen mit 20 bis 49 Mitarbeitern. Nur gut die Hälfte zeigte sich bei einer Bitkom-Befragung aufgeschlossen gegenüber der Digitalisierung, ein Fünftel lehnte es sogar ab, den digitalen Wandel für ihr Unternehmen nutzbar zu machen. Gut ein Drittel aller Unternehmen hat überhaupt keine Digitalstrategie. Vor allem die Firmen, die noch gar nicht exportierten, würden das Potenzial des Internets für die Erschließung neuer Märkte deutlich unterschätzen, bilanziert eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2014. Deshalb wünschen sich Ökonomen, dass die Bundesregierung die überfälligen Vorgaben macht, um neue Technologien zu fördern. "Verlässliche Rahmenbedingungen" sieht auch Roman Friedrich vom Beratungsunternehmen Strategy& als dringend notwendig an, denn die Entwicklung vollziehe sich mit einer "noch nie dagewesenen Geschwindigkeit".

Vorgaben fehlen aber auch beim Umbau der Republik hin zur nachhaltigen Energie. Der Staat dürfe nicht warten, bis die Energiepreise wieder neue Signale setzen oder der kaum funktionierende Emissionshandel wieder anzieht. Jetzt sei die Zeit zum Handeln, sagt Claudia Kemfert, die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Sie erwartet, dass der Ölpreis schon bald wieder steigen wird. "Die Situation wird sich mittelfristig wieder verändern". Bei der Umsetzung der Energiewende sei bisher viel zu wenig oder gar nichts passiert, klagt die Professorin. Das gelte vor allem für die Wärmedämmung der Gebäude und den Verkehr. "In diesen Bereichen hat die Energiewende noch gar nicht begonnen." Jetzt seien neue politische Vorgaben nötig. Kemfert hält es für sinnvoll, den Klimaschutz mit Steuererleichterungen zu fördern. Die Ökonomin hält auch Steuererhöhungen beim Mineralöl für sinnvoll. "Es ist in guten Zeiten einfacher, so etwas durchzusetzen und die richtigen Signale zu setzen."

Die Mahnung, sich nicht zurückzulehnen, kommt inzwischen sogar aus Washington. Die Wachstumsfähigkeit der wohlhabenden Volkswirtschaften sei zuletzt beständig gesunken, warnt der Internationale Währungsfonds (IWF). Um diesen Trend umzukehren, müssten die Länder endlich Reformen und Maßnahmen für mehr Innovationen und Produktivität umsetzen. "Die Erhöhung des Wachstumspotenzials wird in wichtigen Industrie- und Schwellenländern eine Priorität sein müssen", fordert der IWF.

Die Situation sei ernst.

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