Deutsche Geschäfte in der Türkei:"Türken haben das Unternehmertum im Blut"

Die türkische Wirtschaft boomt ohne Ende. Davon versuchen auch deutsche Mittelständler zu profitieren. Doch der Markt hat seine Tücken.

Björn Finke, Istanbul

Es klingt nach einem tollen Geschäftsmodell, der Hauptrohstoff ist in Hülle und Fülle vorhanden. Und er kostet nichts. Trotzdem schaut Mutlu Sahin etwas gequält, als er diesen Satz sagt: "Eigentlich verkaufen wir zu 98 Prozent Luft." Der 40-Jährige leitet die türkische Tochter von Austrotherm, einem österreichischen Hersteller von Styropor für die Wärmedämmung.

Deutsche Geschäfte in der Türkei: Die Istiklal-Straße, eine der Istanbuler Einkaufsmeilen: Die Türken stecken viel Geld in den Konsum.

Die Istiklal-Straße, eine der Istanbuler Einkaufsmeilen: Die Türken stecken viel Geld in den Konsum.

(Foto: AFP)

Styropor, aufgeschäumter Kunststoff, ist in der Tat eine luftige Angelegenheit. Viel Volumen, wenig Masse. Leider, erzählt Sahin, berechnen Spediteure den Preis für ihre Dienste auch danach, wie viel Platz die Ware wegnimmt. Das erklärt den gequälten Blick. "Transportkosten sind ein großer Batzen vom Umsatz", klagt der Manager.

Und es erklärt zumindest zum Teil, wieso Austrotherm vor dreieinhalb Jahren eine Fabrik südöstlich von Istanbul aufmachte und nun vor Ort, nahe am Kunden, mit 43 Beschäftigten Dämmstoffe herstellt. Davor hatte der Mittelständler sein Styropor importieren müssen.

Den anderen Teil der Erklärung liefern ein paar Zahlen: 73 Millionen Einwohner, geschätzte acht Prozent Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr, ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von mehr als 8000 Euro - das ist dreimal so viel wie vor zehn Jahren. Die Türkei boomt seit der Jahrtausendwende, im ersten Quartal 2011 war die Zuwachsrate der Wirtschaft mit elf Prozent sogar die höchste weltweit. Die Einbußen aus dem globalen Krisenjahr 2009 sind längst wieder hereingeholt. Damit wird das Land immer interessanter für ausländische Unternehmen. Wobei ein Engagement dort auch seine Tücken hat. Wer blauäugig an die Sache herangeht, zahlt Lehrgeld.

Dennoch: Der Wert ausländischer Investitionen in der Türkei hat sich in den ersten neun Monaten 2011 mehr als verdoppelt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Und aus Deutschland kommen die meisten Investoren. 2010 gab es 4315 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in dem Land. Inzwischen sind es mehr als 4600, schätzt Marc Landau, Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul.

Die Kammer ist untergebracht in einem schmucken Holzhaus im Park der Sommerresidenz des deutschen Botschafters. Hier, im Vorort Tarabya, wirkt der Moloch Istanbul ruhig und kleinstädtisch. Sanft wiegt ein Wind vom Bosporus die Bäume. Landau, in Personalunion Vertreter des Freistaats Bayern in der Türkei, schaut aus seinem Bürofenster in den Park und rasselt ein paar Daten herunter, die so gar nicht in diese Beschaulichkeit passen. Etwa, dass es zur Jahrtausendwende gerade mal 1000 deutsche Beteiligungen gegeben habe, sich die Zahl in den vergangenen elf Jahren demnach fast verfünffacht hat. Oder dass seine Kammer 2008 - vor der Finanzkrise - 360 Mitglieder hatte, es nun aber 660 seien. Der weltweite Abschwung habe die Investoren also kalt gelassen.

Und das Interesse ebbt nicht ab: "Wir kriegen viele Anfragen", sagt er. Die Unternehmen knüpfen an eine lange Tradition an. Die erste Telegraphenanlage Istanbuls installierte Siemens 1856; der Baukonzern Philipp Holzmann verlegte von 1903 an die Trassen der Bagdad-Bahn durchs Osmanische Reich. Der Autozulieferer Bosch eröffnete schon 1910 eine Niederlassung in der Türkei. Und seit den sechziger Jahren fertigen MAN und Daimler Busse vor Ort. Das zog weitere deutsche Zulieferer in das Land.

Auf der Suche nach qualifizierten Arbeitern

Bei hiesigen Mittelständlern ist die Türkei jedoch vor allem seit der Jahrtausendwende in den Fokus gerückt, schreibt der staatliche deutsche Informationsdienst Germany Trade & Invest in einer Studie. Wie die deutsche ist auch die türkische Wirtschaft stark von mittelständischen Familienunternehmen geprägt. "Das passt ganz gut, wenn deutsche und türkische Mittelständler Geschäfte machen", sagt Mario Diel. "Das sind ähnliche Firmenkulturen und Entscheidungsstrukturen." Der Kölner lebt seit 15 Jahren in der Türkei, er ist Chef der Beratungsgesellschaft Conbridge, die Konzerne bei Investments in dem Land unterstützt.

Den größten Fehler, den Ausländer seiner Erfahrung nach machen können, ist, die heimischen Geschäftspartner zu unterschätzen, etwa bei Verhandlungen. "Türken haben das Unternehmertum im Blut", sagt er. Der Staat sei lange als Problemlöser ausgefallen, das habe Eigeninitiative und Kreativität gefördert. Außerdem rät er zur Geduld: "Ausländische Firmen, die sich hier niederlassen, brauchen oft ein Jahr, bis sie den ersten großen Abschluss an Land ziehen." Man müsse erstmal ein Beziehungsnetz knüpfen und die Mentalität kennenlernen. Türkische Entscheider wollten zunächst Vertrauen fassen zu dem Neuling.

Fast jedes dritte Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Türkei ist laut Germany Trade & Invest im Groß- oder Einzelhandel tätig. Filialen von Tchibo oder Deichmann finden sich auch in türkischen Einkaufsstraßen. Die Ketten profitieren davon, dass die Bevölkerung jung und konsumfreudig ist und die Zahl der Einwohner nach Schätzung der Vereinten Nationen bis 2050 weiter wächst. Großhändler und Industriebetriebe wiederum lockt die Lage der Türkei zwischen Europäischer Union und den öl- und gasreichen Staaten im Nahen Osten und am Kaspischen Meer. "Die Türkei ist der zentrale Beschaffungsmarkt für viele benachbarte Länder", sagt Kammerchef Landau. Und dank der Zollunion mit der EU fallen seit 1996 beim Im- und Export nach Europa keine Abgaben an der Grenze mehr an.

Eine Triebfeder des Booms ist die ungewohnte politische und wirtschaftliche Stabilität in dem Land. Früher kamen und gingen Regierungen, Reformen wurden angekündigt und wieder abgesagt. 2001 erschütterte die bislang letzte von mehreren schweren Wirtschafts- und Finanzkrisen die Türkei, viele Banken gingen Pleite, der Internationale Währungsfonds verordnete einen harten Sanierungskurs. Seit 2002 regiert nun die konservative AKP den Staat mit absoluter Mehrheit, ihr Ergebnis konnte die Partei in den beiden darauf folgenden Wahlen sogar weiter steigern. Der Regierung gelang es, die Staatsschulden von 70 auf 40 Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken; die Inflation pendelt jetzt nur noch um die zehn Prozent statt im dreistelligen Bereich; der Bankensektor ist nach der Bereinigung zur Jahrtausendwende kapitalstark und überstand die Lehman-Turbulenzen ohne Blessuren.

Die Arbeitslosenquote ist auf weniger als zehn Prozent gesunken, und verglichen mit Südosteuropa ist die Türkei längst kein Billiglohnland mehr. In der wichtigen Autoindustrie fielen Arbeitskosten von sieben bis acht Euro pro Stunde an, sagt Landau, das ist doppelt so viel wie in Bulgarien. "Dafür ist die Produktivität in der Türkei auch deutlich höher." Trotzdem beklagt etwa die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der türkische Arbeitsmarkt sei überreguliert, der Mindestlohn sei zu großzügig. Das fördere die grassierende Schwarzarbeit.

Was den Arbeitsmarkt angeht, bereiten Austrotherm-Manager Sahin andere Dinge mehr Sorgen. "Es ist immer ein Problem, qualifizierte Facharbeiter zu finden", sagt er. Meist müsse man die Beschäftigten erst anlernen - "und wenn sie dann angelernt sind, kündigen sie manchmal von heute auf morgen und gehen zu einem anderen Betrieb." Bei Landaus Kammer gehören Beschwerden über das Ausbildungssystem zu den häufigsten Klagen der Mitglieder. Trotzdem will Austrotherm weiter investieren, erklärt Sahin: "Wir schauen gerade, wo wir ein zweites Werk bauen." Damit die teuren Wege zu den Kunden noch kürzer werden.

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