Deutsche Bahn:Das Geheimnis der Achse

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Seit ein ICE am Kölner Hauptbahnhof entgleiste, prüft die Bahn verstärkt die Radwellen der Hochgeschwindigkeitsflotte - und wird zu ihrer eigenen Überraschung fündig.

Michael Bauchmüller

Draußen warten Kiel, Memmingen, Salzburg, drinnen steht die Eisenach, seit Stunden schon. Arbeiter haben gerade die letzte Achse geöffnet, ein langer Stab schiebt sich langsam hinein und sucht.

Auffälligkeiten gibt es ständig bei den Untersuchungen - mehr als hundert in den vergangenen Monaten (Foto: Foto: ddp)

Auf einem Bildschirm flimmern eigenartige rote Striche. Das hier war früher Routine, alle paar Monate zumindest, mehr nicht. Heute gilt es als lebensrettende Maßnahme. Potentiell lebensrettend für alle, die mit den Zügen Kiel, Memmingen und Eisenach unterwegs sind, mit 230 Sachen und mehr, mit Neigetechnik in engen Kurven. Vieles darf geschehen, lässt sich verkraften bei schneller Fahrt. Die Toilette kann ausfallen. Eine Tür. Schlimmstenfalls auch der Strom. Aber keine Achse darf brechen, nicht beim deutschen Technik-Wunderwerk ICE.

Jahrelang war das auch gar kein Thema. Risse an den Achsen von Hochgeschwindigkeitszügen kamen einfach nicht vor, jedenfalls kann sich hier in Rummelsburg niemand daran erinnern. Rummelsburg, ein graues Gewerbegebiet im Osten Berlins, beherbergt eines von vier Bahnwerken, in denen die Achsen der ICE-Züge per Ultraschall untersucht werden. Bei der Bahn heißen die Risse immer noch "Auffälligkeiten", ein Bruch ist ein "Vorkommnis".

Auffälligkeiten gibt es ständig bei den Untersuchungen, mehr als hundert in den vergangenen Monaten. Zweimal aber erwiesen sich die Probleme als ernst, einmal davon in Rummelsburg. Jürgen Kabuß schüttelt heute noch den Kopf. "Da haben wir schon gedacht: Donnerwetter, was machen wir jetzt damit", sagt er. Kabuß, Chef der Rummelsburger ICE-Werkstatt, ist ein freundlicher, zupackender Mann, seit über 40 Jahren Bahner.

Einerseits sei das endlich mal der Beweis gewesen, dass das System tatsächlich funktioniert. Andererseits ist seitdem Alarm bei der Bahn. "In den ersten Tagen haben die Mitarbeiter natürlich besonders viel gefunden", sagt Kabuß. Und auf jeden Fall schauen sie jetzt ganz besonders genau hin, die "Lustigen Schaller", wie sich der kleine Trupp am ICE Eisenach nennt.

"Unzulässiger Befund"

Es war Mitte Oktober, als die bedenkliche Ausnahme zur echten Besorgnis wurde. Zwar war der ICE 3, dessen Achse bei der Ausfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof brach, nur knapp einer Katastrophe entgangen. Aber es war ein Einzelfall. Erste Hinweise, dass es anders sein könnte, hatte die Bahn Anfang August. "Am 09.08.2008", so beginnt ein Untersuchungsbericht der Bahn, "wurde im Werk München bei einer planmäßigen Überprüfung der Treibradsatzwelle 25211139 im Fahrzeug 411163-9 des Triebzuges ICE 1163 ein unzulässiger Befund festgestellt."

Die Achse kam nach Kassel, wurde dort genauer untersucht. Am 6. Oktober war der Millimeter-Anriss aktenkundig. Erst eine Woche später, am 14. Oktober, informierte die Bahn das Eisenbahnbundesamt; fünf Tage zuvor hatte der Konzern seinen Börsengang verschoben.

Es kann ein Zufall sein, dass sie sich solange Zeit ließ - muss es aber nicht. Es spielt auch heute keine große Rolle mehr. Fest steht, dass die Probleme damit erst so richtig begannen.

Seit Mitte Oktober ist der Fahrplan aus den Fugen. Vor den Ausbesserungswerken stauen sich die Züge, an den Bahnsteigen fehlen sie. Nicht nur die 67 Züge vom Typ ICE 3 müssen jetzt gut alle drei Wochen in die Ultraschall-Kontrolle, sondern auch die 70 Neigetechnik-ICE-T. Das aber dauert, fünf Gleise gibt es in der Rummelsburger ICE-Halle und deutschlandweit nur gut 20 Ultraschall-Anlagen. Eigentlich zu wenig für die vielen Züge, die nun zu prüfen sind. Die Bahn stockt auf, aber das dauert.

Zwei Teams, zwei Schichten

Am ICE Eisenach erreicht der lange Stab mit den Ultraschallsensoren nun langsam das Ende der Achse. Sie tasten sich durch das Sechs-Zentimeter-Loch, das jede ICE-Achse im Innern hat. An die 400000 Euro kostet das Gerät, an der schweren Achse wirkt das feine Aluminium-Gestänge unendlich zerbrechlich.

In zehn Richtungen schicken die Prüfköpfe ihre Ultraschallwellen, während sie langsam immer tiefer in die Achse eindringen. Hat die Achse einen Riss, kommt der Schall anders zurück, als er soll, auf dem Bildschirm erscheint dann nicht mehr ein langer roter Strich, sondern ein Punkt. Das ist dann eine "Auffälligkeit". Im Zweifel wird der tonnenschwere Radsatz samt Welle ausgetauscht.

Eine Stunde dauert allein die Ultraschall-Prozedur je Radsatzwelle, 32 davon hat etwa der ICE 3. Selbst zwei Teams brauchen dafür mehr als zwei Schichten. Zeitdruck, sagt Kabuß, gebe es hier aber nicht. "Wir gehen hier von sechs Wellen je Schicht aus", sagt er. "Die Mitarbeiter sollen selbst entscheiden, wie lange sie brauchen."

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Für ein System, das derart auf feste Zeitpläne eingerichtet ist, wirkt das wie Gift. Erst wollten sie Mitte Oktober wieder in den Takt kommen, dann im November, dann Weihnachten, jetzt soll es bis Juli dauern. So lange gilt ein Ersatzfahrplan, mit dem die Bahn nun auf vier ICE-Strecken fährt.

Zwar fahren hier Züge, aber nicht so oft und nicht so schnell wie sonst. Fällt wieder ein Zug aus, weil er nicht rechtzeitig in die Inspektion kam, muss eben ein Intercity her - nur fährt der langsamer. Und der "bogenschnelle Betrieb", der den ICE-T so schnell durchs deutsche Mittelgebirge fahren lässt, der bleibt abgeschaltet. Auch diese Züge fahren deshalb langsamer.

Fehler im Stahl?

Dabei geht die Arbeit erst richtig los: die Arbeit im Labor. In der Berliner Bundesanstalt für Materialforschung haben sie die Achse des Kölner ICE-Unfalls unter der Lupe, noch in diesem Jahr soll ein Bericht vorliegen. Sie haben die Achse aufgeschnitten, das Material untersucht, die Bruchstelle unter dem Mikroskop angeschaut.

Sie haben den "Rissstart" und den "Restbruch" analysiert, das "Sekundärlinienmuster" gedeutet und die Reinheit des Stahls geprüft. Wer aber schuld ist, ob die Hersteller Falsches zugesichert haben oder die Bahn zu lax kontrollierte, das steht immer noch nicht fest. Vermutlich sei es ein Mix aus verschiedenen Faktoren, schrieben die Bundes-Materialprüfer in einem Zwischenbericht.

Vor den Toren Berlins, im Bahn-Expertenwerk Kirchmöser, rollt derweil eine Achse einsam vor sich hin. Seit Wochen schon ist eine der beiden Rissachsen auf dem "Rollprüfstand", zigtausend Kilometer hat sie schon hinter sich. "Ziel ist es, hier den Rissfortschritt zu errechnen", sagt Thomas Oelschlägel, einer der Chef-Prüfer der Bahn. "Wir simulieren die normale Fahrt und schauen uns an, wie sich der Riss entwickelt." Noch sei der Riss nicht gewachsen, heißt es bei der Bahn, auch nach 40000 Kilometern nicht.

Die andere Achse dagegen haben sie schon zersägt und zerlegt. Parallel zur Bundesanstalt will auch die Bahn herausfinden, ob womöglich Materialschäden schuld sind an den Rissen. Es geht um viel Geld. Noch immer prüft die Bahn Schadenersatzklagen gegen die Hersteller.

Schließlich hatten die im Begleitheft eine Wartung alle 480.000 Kilometer vorgeschrieben. Derzeit aber müssen sie alle 30.000 Kilometer in die Ultraschall-Prüfung. Ob weniger auch ausreichen würde, darauf wollen sich die Hersteller aber nicht festlegen - vorsichtshalber. Und unklar ist auch, ob die häufige Prüfung, das Ab- und Anschrauben der sensiblen Achsdeckel, den Wellen nicht am Ende mehr schadet als nutzt.

Es ist dunkel, als die Eisenach langsam aus der 250-Meter-Halle herausrollt. Ingo Fritz, einer der "Lustigen Schaller", räumt seine Utensilien zusammen, für den nächsten ICE. "War nischt", sagt Fritz. "Allet schön." Zumindest mal bei der Eisenach.

© SZ vom 22.11.2008/hgn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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