Deutsche Aktienkultur:Im Land der Sparbuch-Liebhaber

Börse Frankfurt

Nur wenige Deutsche können sich über den Dax-Aufschwung so freuen wie dieser Gartenzwerg.

(Foto: dpa)

Der Dax steigt erstmals über 10 000 Punkte, doch die Deutschen setzen weiterhin auf Sparbücher und Lebensversicherungen anstatt Aktien. Dadurch lassen sich die Bundesbürger viele Milliarden Euro entgehen - warum nur?

Von Alexander Hagelüken

Von Montag bis Freitag kommt jeden Abend vor der Tagesschau der Dax in deutsche Wohnzimmer. Gescheitelte Herren mit Krawatte oder Damen mit sehr gelben Kostümen stehen vor dem Panorama der Frankfurter Börse. Sie reden von "Rekordjagd" und "Eiertanz", sie referieren Firmenzahlen und erzählen, warum sich auch Finanzmenschen vor Wladimir Putins Aggression fürchten - die ist schlecht für die Geschäfte.

Willkommen im Wohnzimmer

Der Deutsche Aktienindex kommt seit 14 Jahren ins Wohnzimmer. Die ARD fing zur Jahrtausendwende mit der Sendung an, weil die Deutschen damals genauso viel über Aktien redeten wie über das Wetter - und das kam schon länger vor der Tagesschau ins Wohnzimmer. Der Dax hatte sich binnen fünf Jahren vervierfacht und viele Deutsche dachten, sie würden schnell reich. Bald nach Beginn der Börsensendung verlor der Dax fast alle seine Gewinne wieder.

Die Deutschen dachten nun nicht mehr, sie würden schnell reich. Sie redeten jetzt wieder mehr übers Wetter als über die Börse. Die ARD blieb trotzdem bei ihrer Sendung. Der Dax tritt jetzt jeden Abend im Leben sehr vieler Deutscher auf, ob es sie interessiert oder nicht. Durch die Sendung und all die Börsenberichte in Zeitungen ist er zum Bestandteil ihres Alltags geworden, aber gehört er wirklich dazu? Nur eine Minderheit der Bundesbürger besitzt überhaupt Aktien.

Auf Rekordjagd

Dass der Dax nun das allererste Mal über 10 000 Punkte steigt, ist kein Zufall, wie Börsengegner glauben, die die Aktienmärkte für ein einziges Casino halten. Der Rekord kommt zustande, weil Konkurrenzprodukte gnadenlos unattraktiv sind. Seit die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen senkten, um zuerst die Finanz- und dann die Euro-Krise zu stoppen, werfen Sparbücher und Bundesanleihen kaum noch etwas ab.

Solange die EZB wie am Donnerstag das Geld verbilligt, also womöglich noch ein bis zwei Jahre, dürften die Anleger lieber Aktien kaufen - und der Dax oben bleiben, über die 10 000 hinaus. Die Nullzinsen sind aber nur der eine Grund für den Boom.

Der andere ist der deutsche Aufschwung der vergangenen Jahre. Deutschland kam sensationell aus Finanz- und Euro-Krise, die Firmen verdienen gut, Ausländer kaufen massenhaft deutsche Aktien. Das alles zeigt der Index. Wer seine Kurven bis zurück in die Fünfzigerjahre berechnet, sieht die Fußabdrücke der Geschichte. Im Wirtschaftswunder geht es langsam aufwärts, die erste Rezession 1967 und die beiden Ölkrisen drücken dann. Mit der Globalisierung in den Neunzigerjahren geht es stürmisch nach oben, bis die Internetblase platzt und später die Finanzkrise ausbricht.

Der Dax taugt als früher Indikator, wie es der Wirtschaft geht, die das Leben der Deutschen so prägt. Das wäre doch ein Anlass, sein Geld in die Wirtschaft zu investieren, um möglichst viel von den Vorteilen dieser mächtigen Maschine mitzunehmen, deren Einfluss man ohnehin so stark ausgesetzt ist. Aber um die Vorteile zu nutzen, müsste man eben Aktien kaufen.

Wem der Dax gehört

Die Verdoppelung des Index seit 2008 hat ein unglaubliches Vermögen geschaffen. Der Wert der dreißig Dax-Firmen an der Börse stieg um 410 Milliarden Euro. 410 000 000 000. Das entspricht sieben Prozent des gesamten Vermögens aller Deutschen. Das ist so, als ob jeder Deutsche vom Baby bis zum Greis 5000 Euro dazubekommen hätte. Hat er aber nicht.

Die Dax-Konzerne gehören mehrheitlich ausländischen Anlegern. Vorzeigebetriebe wie Adidas, die Allianz oder Bayer sind überwiegend in fremder Hand. Der Rest gehört nicht den Deutschen, sondern wenigen Deutschen. Während der Dax vergangenes Jahr um 25 Prozent zulegte, schrumpfte die Zahl der Aktionäre - um 600 000. Inzwischen besitzt nicht mal jeder neunte Deutsche die Dividendenpapiere, die in den vergangenen Jahren reich machten.

Die Deutschen lassen sich enteignen

Dazu passt, dass das Vermögen in Deutschland ungleicher verteilt ist als früher und mehr als jeder vierte Erwachsene nichts besitzt, oder nur Schulden. Die Bundesrepublik ist der bewunderte, beneidete und angefeindete Star der Euro-Zone - und nirgends unter den 18 Mitgliedern der Währungsunion ist das Vermögen zwischen Arm und Reich so ungleich verteilt. Das hat eine Reihe von Gründen, an denen vor allem die Politiker etwas ändern könnten, wenn sie wollten. Etwa die Steuersätze für Großverdiener. Aber es liegt eben auch daran, wie die Deutschen ihr Geld anlegen.

German Angst

Viele reichere Deutschen kaufen Aktien. Die meisten anderen investieren vor allem in Produkte, die gerade im Moment wegen der niedrigen Zinsen wenig abwerfen: Sparbücher (51 Prozent der Deutschen), Bausparverträge (37), Lebensversicherungen (35). Durch die Minizinsen entgehen den Bundesbürgern 15 Milliarden Euro im Jahr, rechnet Sparkassenpräsident Georg Fahrenschon vor und spricht von einer "schleichenden Enteignung" durch die EZB.

Aber die Deutschen lassen sich eben auch enteignen. Weil sie Aktien scheuen, die langfristig mehr abwerfen als anderes: Die London Business School rechnete bis ins Jahr 1900 zurück und ermittelte eine Jahresrendite von fünf Prozent für Aktien. Und unter zwei Prozent für Anleihen.

Denken die Deutschen um, jetzt da der Dax erstmals 10 000 Punkte übersteigt und Geld auf dem Sparbuch schrumpft? Sieht nicht so aus. Die Zahl der Aktionäre schrumpfte nicht nur 2013. Seit zur Jahrtausendwende alle über Aktien redeten und die ARD den Dax ins Wohnzimmer zu schicken begann, sank die Zahl der Besitzer von Aktien oder Aktienfonds um vier Millionen. Für die Börse interessieren sich nur halb so viele 20- bis 40-Jährige wie damals. Das Platzen der Internetblase und die Finanzkrise haben sie abgeschreckt.

Der Züricher Professor Thorsten Hens, der das globale Investmentverhalten untersucht, hält die Deutschen für geeignete Aktienanleger. Weil sie ihr Geld langfristig deponieren. Und ein paar Jahre Geduld braucht es an der Börse, an der es auf und ab geht. "Das Problem ist nur: Die Deutschen können nicht mit Verlusten umgehen. Sobald sie verlieren, springen sie schnell raus", sagt Hens.

Seit dem Crash nach der Jahrtausendwende hat sich der Dax vervierfacht. Aber diese Gewinne fuhr nur eine Minderheit der Bundesbürger ein. Die anderen ließen sich vom Crash abschrecken, sie setzen auf Sicherheit. Was aktuell bedeutet, auf Zinsprodukten zu sitzen, mit denen sie unterm Strich Geld verlieren. Und das in einer Zeit, da der Staat die Renten kürzt und die Deutschen auf lohnende Geldanlagen angewiesen wären.

Teuer und billig

Wird jetzt doch mancher nachdenklich, nachdem der Dax am Donnerstag vor der Tagesschau über die 10 000er-Marke kletterte, während sich die Sparzinsen der 0,00er-Marke nähern? Es ist die Last der großen Zahl, die manchen schreckt. Stürzte der Dax nicht schon zweimal ab, nachdem er über 8000 Punkte gestiegen war? Zahlenmystiker sollten wissen, dass es in der Vergangenheit wenig bedeutete, ob ein Index eine runde Marke nahm oder nicht.

Aber sind die Kurse nicht schon stark gestiegen? Ja. Und Aktien sollten ohnehin kein Depot dominieren, sondern immer ein Investment unter mehreren sein. Aber für die Frage, ob die Aktien bereits überteuert sind, muss man sich schon die ökonomischen Faktoren ansehen.

Als im Jahr 2000 der Dax ins Wohnzimmer kam, gab es eine echte Blase. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das anzeigt, wie viele Gewinne der Firma pro Aktie im Kurs stecken, lag teils über 30 - da hätten die Firmen schon sehr lange viel Geld verdienen müssen, um solche Kurse zu rechtfertigen. Im Moment liegt dieses Verhältnis nur etwas mehr als halb so hoch und damit auch niedriger als im Schnitt der vergangenen 30 Jahre. Deutsche Aktien sind also nicht billig, aber keinesfalls überteuert.

Aber vermutlich wird der Dax auch weiter in die Wohnzimmer der Deutschen kommen wie ein lästiger Gast, den man schnell wieder vergessen will.

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