Der Kapitalismus:Erfolgreich - aber nur bedingt human

Der Sieger im Wettstreit der Systeme muss seine Krisenfestigkeit noch beweisen.

Volker Wörl

(SZ vom 21.06.03) - Irgendwie spüren viele Leute, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn die Renten um ein Prozent, Vorstandsbezüge aber um 120 Prozent steigen.

Der Kapitalismus: Aktivisten der linken Szene demonstrieren vor der Frankfurter Börse gegen den Kapitalismus.

Aktivisten der linken Szene demonstrieren vor der Frankfurter Börse gegen den Kapitalismus.

(Foto: dpa)

Deswegen stellen sie nicht gleich den Kapitalismus in Frage, weil es ihnen ziemlich gleichgültig ist, unter welchem System sie leben. Hauptsache, es geht ihnen gut. Es gibt ja auch viele Beispiele dafür, dass der Kapitalismus erfolgreich ist.

Ein besonders lehrreiches war der Irak-Krieg. Sein schnelles Ende ist nicht nur der amerikanischen Armee, sondern auch dem amerikanischen Wirtschaftssystem zu danken. Denn nur ein steinreiches Land kann sich eine so perfekte, mit modernster Technik bestückte Kriegsmaschine leisten.

Wohlstand durch kapitalistische Prinzipien

Das in den Vereinigten Staaten so konsequent wie nirgendwo sonst auf der Welt praktizierte System wird eben Kapitalismus genannt. Und wo immer in der Welt sich nach dem Zweiten Weltkrieg breiter Wohlstand durchgesetzt hat, wurden kapitalistische Prinzipien angewandt: freier Wettbewerb, Risikobereitschaft, Rücksichtslosigkeit - letztere vielleicht kaschiert durch soziale Trostpflaster.

Was ist die deutsche Realität? Das Land laviert an der Grenzlinie zwischen Stagnation und Rezession. Viereinhalb Millionen Menschen sind arbeitslos.

Die im Dax versammelte Crème der deutschen Wirtschaft ist, gemessen an den Börsenkursen, nur noch ein Drittel dessen wert, was sie vor drei Jahren war. Millionen Kleinaktionäre haben viel Geld verloren. Die Zahl der Pleiten erreicht Rekordhöhen, für die Sanierung gefährdeter Firmen zahlt meist die Belegschaft.

Liegt dies alles an unterbliebenen Reformen der sozialen Sicherungssysteme, an überregulierten Märkten, an den hohen Lohnkosten?

Zu viel oder zu wenig Kapitalismus?

Sind die kapitalistischen Regeln zu wenig konsequent angewendet worden, oder gilt das Gegenteil? Sind sie überfordert, wenn massive Störungen die Weltwirtschaft erschüttern? Ernste wirtschaftliche und soziale Probleme gibt es ja auch in den Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von Japan.

Als im Sommer vergangenen Jahres Finanzskandale, von Enron bis Xerox, publik wurden, entdeckten US-Zeitungen ein "Watergate der amerikanischen Wirtschaft" (New York Times), einen "Wurm im Kern des Kapitalismus" (Washington Post) und "Ein Versagen des Systems" (Fortune).

Der Professor vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Starautor, Noam Chomsky, sieht drängende Probleme vernachlässigt: marodes Gesundheits- und Bildungssystem, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Verfall der Innenstädte.

Erstaunlicherweise wird in Europa, wo linke, sozialdemokratische Vorstellungen zwar im Rückzug, aber immer noch fest verankert sind, das System weit weniger angegriffen.

Kapitulation vor den Fakten

In der deutschen Politik geschieht dies allenfalls aus der zweiten Reihe (Oskar Lafontaine), im rot-grünen Lager herrscht weitgehende Waffenruhe: aus Kapitulation vor den Fakten - siehe ein Prozent Rentenerhöhung - vielleicht auch, weil die Linke kein erfolgreicheres System anzubieten hat.

Sinn jeden Wirtschaftens ist es, oder sollte es sein, den Menschen gleiche Chancen, einer möglichst großen Zahl möglichst viel Lebensqualität im weiteren Sinne zu sichern und dabei die begrenzten Ressourcen unseres Lebensraumes zu schonen.

Vermag dies der Kapitalismus? Im globalen Wettbewerb werden die fortgeschrittenen Staaten ihre Produktivität immer stärker steigern müssen, um mit den Billigländern konkurrieren zu können.

Konzentration der Arbeit

Die Folge wird sein: ständig wachsende Konzentration der Arbeit auf immer weniger hoch bezahlte Spezialisten: Facharbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler, Lehrkräfte, Juristen, Berater. Für den immer größer werdenden Rest bleiben minder bezahlte Arbeiten, die sich nicht rationalisieren lassen.

Wird der Kapitalismus an seinem Sieg scheitern, wie der Ökonom Joseph Schumpeter in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts argwöhnte? Daran, dass die Gesellschaft materiell so reich ist wie nie zuvor und gleichzeitig arm an Arbeit?

Der Markt wird alles zum Besten regeln, sagen die Neoliberalen. Ihr Schutzpatron, der schottische Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith, erfand das Bild von der "unsichtbaren Hand", die dafür sorgt, dass der Eigennutz unbeabsichtigt zugleich die Wohlfahrt des Gemeinwesens fördert.

Das Gemeinwesen Weltbevölkerung steht im 21. Jahrhundert vor zwei globalen Herausforderungen: dem zunehmenden Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd (Stichwort: Hunger) und der Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen (Klimawandel, Wassermangel).

Herausforderungen nicht gelöst

Die unsichtbare Hand hat diese Herausforderungen nicht gelöst. Vermutlich deswegen, weil es die Hand nicht gibt. Es ist das Kreuz des Kapitalismus: Bei vielen Entscheidungen mit sozialen und ökologischen Folgen ist der Markt blind, weil sich diese nicht in Preisen ausdrücken lassen.

Was, zum Beispiel, ist und was kostet mehr Gerechtigkeit in einer Gesellschaft? Im Wettstreit der Systeme hat der Kapitalismus gesiegt. Dass er krisenfest und menschenfreundlich ist, muss er noch beweisen.

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