Democracy Lab:Dossier: Wie wird Deutschland gerechter?

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Die Fassade der Deutsche Bank in Frankfurt am Main (Symbolbild) (Foto: Dmitri Popov/Unsplash.com (M))

Soziale Gerechtigkeit ist ein zentrales Wahlkampfthema. Was Hartz IV, Erbschaftssteuer und "Reichensteuern" dazu beitragen können. "Democracy-Lab"-Dossier zum Thema soziale Gerechtigkeit.

Von Valentin Dornis, Benjamin Moscovici und Veronika Wulf

Geht es in Deutschland gerecht zu? Nach Meinung der Wahlkampfstrategen der SPD nicht, sonst hätten sich die Sozialdemokraten nicht für den Slogan "Zeit für mehr Gerechtigkeit" entschieden. Bei den anderen Parteien taucht das Wort "gerecht" ebenfalls im Programm auf - von der Linken bis zur AfD - auch wenn sie jeweils sehr verschiedene Dinge darunter verstehen.

Tatsächlich beschäftigt die Menschen in diesem Wahlkampf kaum ein Thema so sehr wie die soziale Gerechtigkeit. Das hat auch die Deutschlandreise des SZ-Democracy-Labs gezeigt. Drei Themen sind den Menschen besonders wichtig, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht: Hartz IV, die Erbschaftsteuer und die Vermögenssteuer. Antworten auf wichtige Fragen zu diesen Themen finden Sie hier:

Was sind die Hartz-Reformen?

Hintergrund: Die Hartz-Reformen wurden 2005 unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder eingeführt, um die Sozialkassen zu entlasten und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Wirtschaft der Bundesrepublik befand sich damals in einer schweren Krise: Die Arbeitslosenzahlen waren auf dem höchsten Niveau seit dem Zweiten Weltkrieg, die Exporte stagnierten, Deutschland galt als der "kranke Mann Europas", zumindest formulierte es damals der Economist so. Schröder war überzeugt, nur eine radikale Arbeitsmarktreform könne Abhilfe schaffen. Der wichtigste Bestandteil der Reform war die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit weiten Teilen der Sozialhilfe. Blickt man auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen waren die Reformen erfolgreich. Für viele brachten sie aber auch harte finanzielle Einschnitte mit sich. Außerdem entstanden durch die Reformen deutlich mehr Jobs im Niedriglohnsektor.

Höhe des Hartz-IV-Satzes: Der Regelsatz wurde über die Jahre leicht angehoben. 2017 bekamen Alleinstehende 409 Euro, für Kinder bis sechs Jahren gab es 327 und für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren zahlte der Staat 311 Euro. Hinzu kommen Unterstützungen bei Mieten und einmalige Beihilfen in Sonderfällen wie Schwangerschaft oder Krankheit.

Umfang und Kosten: Mittlerweile erhalten rund neun Millionen Menschen in Deutschland Unterstützung vom Staat- entweder Hartz-IV, Grundsicherung im Alter oder Unterstützung im Fall von Erwerbsminderung. Seit Jahren schon steigen diese Zahlen kontinuierlich, zuletzt aber auch aufgrund der hohen Zahl hilfsbedürftiger Flüchtlinge.

Ist Deutschland durch die Hartz-Reformen gerechter geworden?

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im November 2016 mit Blick auf Arbeitsmarktzahlen, steigende Reallöhne und Renten: "Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick."

Christoph Butterwegge, Armutsforscher und ehemaliger Linken-Kandidat fürs Amt des Bundespräsidenten, meint hingegen: "Wir haben eine Situation, in der Millionen von Menschen arm sind, obwohl sie arbeiten, manchmal sogar Vollzeit und nicht in Leiharbeit oder in Teilzeit oder in Minijobs." Und: "Wir haben einen wachsenden Niedriglohnsektor, der inzwischen fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst. Das ist unser Problem."

Welche Aussage stimmt?

Zu Merkel: Zwischen 2012 und 2016 sank die Arbeitslosigkeit und erreichte zuletzt den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Seit dem Start der Hartz-Reformen 2005 schrumpfte die Zahl der Jobsuchenden um fast 50 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei nur noch 5,3 Prozent und ist damit niedriger als in jedem anderen EU-Land. Aber auch für die Älteren haben sich die Beschäftigungschancen enorm verbessert: Hatten vor zehn Jahren nicht einmal die Hälfte der 55- bis 64-Jährigen eine Arbeit, so sind es mittlerweile gut zwei Drittel. Insgesamt sind die Deutschen seit den Hartz-Reformen auch immer reicher geworden. 1999 belief sich die Summe aller privaten und staatlichen Vermögensgüter auf rund zehn Billionen Euro, 2015 waren es bereits 16 Billionen Euro. Die Quote der Deutschen, die in prekären Verhältnissen leben, ist zwischen 2013 und 2015 von 5,4 auf 4,4 Prozent gesunken.

Zu Butterwegge: Auch wenn die Statistiken gut aussehen, heißt das noch nicht, dass es auch allen Menschen gut geht. Aus den Statistiken lässt sich das ablesen, wenn man nicht nur die Verteilung der Einkommen, sondern auch die Verteilung der Vermögen betrachtet. Die Einkommen sind in Deutschland vergleichsweise gleichmäßig verteilt. Anders ist es bei der Verteilung der Vermögen: Innerhalb der Eurozone hat kaum ein Land so eine ungleiche Vermögensverteilung wie Deutschland. Den obersten 0,1 Prozent gehören rund 15 Prozent des Gesamtvermögens. Die unteren 40 Prozent der Bevölkerung verfügen hingegen praktisch über kein Nettovermögen.

Benjamin Moscovici

Wie unterscheidet sich die Erbschaftsteuer von anderen Steuerarten, mit denen der Staat Geld umverteilen kann?

In der Gerechtigkeitsdebatte ist vor allem von drei Steuerarten die Rede: der Einkommensteuer, der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer.

Die Erbschaftsteuer fällt an, wenn ein Mensch nach seinem Tod jemandem Besitz oder Vermögen überlässt. Je nach Verwandtschaftsgrad und Wert des Erbes liegt sie zwischen sieben und 50 Prozent. Dasselbe gilt für die Schenkungsteuer, bei der der Vererbende noch lebt. Sie soll verhindern, dass Vermögende ihren Besitz zu ihrem Lebensende hin einfach verschenken und somit die Erbschaftsteuer umgehen.

Was soll ungerecht sein am Erben?

Die Erbschaftsteuer wird besonders heftig diskutiert - längst nicht nur von jenen, die erben oder vererben. Viele empfinden diese Form der Reichtumsanhäufung ohne Arbeit als unfair. Erben ist eine Art unverhofftes Glück, für das man keine Leistung bringen muss, argumentieren sie. Die großen Summen bekommen diejenigen, die in aller Regel ohnehin gute Chancen hatten im Leben, weil sie von den wohlhabenden Eltern finanziell unterstützt wurden. Zudem haben Kinder aus wohlhabenderen Familien meist bessere Bildungschancen und verdienen später ohnehin mehr als jene, die aus einem ärmeren Milieu stammen.

Wie argumentieren die Gegner einer höheren Erbschaftsteuer?

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Wenn man sein ganzes Leben lang schuftet, damit die eigenen Kinder ein gutes Leben haben, dann darf man dafür nicht bestraft werden, argumentieren die Gegner einer höheren Besteuerung. Oft heißt es: Das verdiente Geld ist bereits versteuert - als Einkommen - wieso sollte der Staat also noch einmal abkassieren? Bei Erben in Familienunternehmen kommen häufig noch Sorgen dazu: Dass man einen Kredit aufnehmen muss, um die Erbschaftsteuer auf die Firma zahlen zu können. Manche befürchten gar, keinen Kredit bewilligt zu bekommen und dadurch das Unternehmen der Eltern zu verlieren.

Welche Positionen gibt es noch?

Der emeritierte Ökonomieprofessor und Pionier der Neuen Politischen Ökonomie, Guy Kirsch, fordert eine Erbschaftsteuer von 100 Prozent. Laut seinen Vorstellungen sollten alle Erbschaften in einen speziellen Fonds fließen, aus dem dann allen Erbberechtigten die gleiche Summe ausgezahlt wird. Ein Hardliner auf der anderen Seite ist zum Beispiel der wirtschaftsliberale Autor Gerd Maas. Wenn es nach ihm ginge, würde die Erbschaftsteuer abgeschafft. Er bezeichnet sie als "Strafsteuer", die auf Neid fuße. In seinen Augen sollten Unternehmerfamilien, die eigenverantwortlich für ihre Nachkommen sorgen, nicht dafür bestraft werden, wie er in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt schrieb.

Was sagen die Parteien?

Die Diskussion um die Erbschaftsteuer spiegelt sich auch in den Wahlprogrammen. Während SPD, Grüne und Linke fordern, große Erbschaften stärker zu besteuern, sind CDU und CSU dagegen. Die FDP möchte die Erbschaftsteuer bei Überlassungen zwischen Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartnern streichen, die AfD will die komplette Erbschaftsteuer abschaffen.

Wie viel wird in Deutschland vererbt?

Die Deutschen haben im vergangenen Jahr knapp 109 Milliarden Euro verschenkt und vererbt. Das ist ein Anstieg von 6,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr sowie ein Rekordwert. Die knapp 109 Milliarden Euro Schenkungen und Erbschaften im Jahr 2016 sind allerdings nur der Teil des übertragenen Vermögens, das über der Steuerfreigrenze lag. Wie viel tatsächlich weitergegeben wird, darüber gibt es sehr unterschiedliche Schätzungen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht von jährlich bis zu 400 Milliarden Euro aus. Der große Anstieg in den Jahren 2014 und 2016 (Grafik oben) ist wohl auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2014 zurückzuführen. Darin hieß es, die Privilegien für Firmenerben seien verfassungswidrig. Bund und Länder einigten sich hinterher auf einen Kompromiss, der zum 1. Juli 2016 in Kraft trat: Firmenerben bleiben weiterhin von der Besteuerung verschont, wenn sie das Unternehmen über eine bestimmte Zeit hinaus fortführen und Arbeitsplätze sichern.

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Braucht der Staat das Geld überhaupt?

Der Staat erwirtschaftet seit Jahren Steuermehreinnahmen. Im vergangenen Jahr waren es wieder 4,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Bei den Einnahmen aus der Erbschaftsteuer lag das Wachstum 2016 gegenüber 2015 sogar bei 24,6 Prozent. Seit zwanzig Jahren nimmt der Staat immer mehr über diese Steuer ein (Grafik oben). Deshalb fragen Gegner von Steuererhöhungen: Warum sollte man die Bürger stärker zur Kasse bitten, und seien es "nur" die reichen? Manche sehen in Steuererhöhungen reine Symbolpolitik, mit der die Parteien den Ruf der Niedrigverdiener und der Mittelschicht nach Gerechtigkeit befriedigen wollen. Andere sehen es wichtige Aufgabe des Staates, bei diesem Thema einzugreifen.

Veronika Wulf

Was ist überhaupt die "Reichensteuer"?

Die Vermögenssteuer ist eine Abgabe auf ein bestimmtes Eigentum, zum Beispiel Firmenanteile. Sie wird in Deutschland seit 1997 nicht mehr erhoben. Die Vermögensteuer ist nicht zu verwechseln mit der sogenannten "Reichensteuer". Diese ist eine Art Sondertarif bei der Einkommenssteuer. Normalerweise ist die Einkommensteuer bei 42 Prozent gedeckelt. Wer allerdings mehr als 256 000 Euro verdient, muss 45 Prozent Einkommensteuer zahlen.

Was sagen die Gegner von Vermögensteuern?

Sie argumentieren vor allem mit der doppelten Besteuerung: Oft hat der Besitzer sein Eigentum entweder gekauft und für das Geld, das er ausgegeben hat, vorher bereits Einkommensteuer gezahlt. Oder er hat es geerbt - und dann eventuell schon Erbschaftsteuer bezahlt. Und wenn jemand mit seinem Eigentum Geld verdient, muss er dafür ohnehin Einkommensteuer zahlen. Eine zusätzliche Vermögensteuer könnte also oft eine Doppelbesteuerung sein.

Bei der Einkommensteuer für Spitzenverdiener argumentieren die Gegner mit aktuellen Zahlen. Die obersten zehn Prozent tragen derzeit etwa 50 Prozent des Steueraufkommen bei der Einkommensteuer. Eine Studie der OECD zeigt, dass die Steuerbelastung in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hoch ist.

Wer fordert höhere Steuern für Reiche - und warum?

Es ist eine traditionell linke Position, dass privater Reichtum ungerecht ist. Es gibt durchaus auch Menschen mit großem Vermögen, die das so sehen: Einer der bekanntesten Fürsprecher von höheren Steuern für Reiche war der Hamburger Reeder Peter Krämer. Der mittlerweile verstorbene Multimillionär forderte über Jahre hinweg, dass Vermögende stärker belastet werden müssten. Er nannte Deutschland sogar ein "Steuerparadies" für Reiche und forderte mit zahlreichen Unterstützern eine Vermögensteuer. Er hielt das nicht für ungerecht, sondern für moralisch geboten: Aus großem Reichtum erwächst besonders große Verantwortung, lautete sein Mantra. Wer besonders viel verdiene, müsse besonders viel abgeben - auch um den sozialen Frieden zu wahren, wie er im Interview mit der SZ sagte. Auch andere Prominente wie SAP-Gründer Dietmar Hopp oder Edzard Reuter äußerten sich schon positiv zu höheren steuerlichen Belastungen für Reiche.

Welche Positionen vertreten die Parteien?

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Von Sebastian Gierke

Die Union kündigte an, die Einkommsteuer um insgesamt 15 Milliarden Euro senken zu wollen. Unter anderem soll der Spitzensteuersatz erst bei Einkommen ab 60 000 Euro gelten (bisher: 54 000 Euro). Die SPD will vor allem Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen, Familien und Alleinerziehende entlasten - insgesamt um etwa zehn Milliarden Euro. Der Spitzensteuersatz soll auf 45 Prozent angehoben werden, er soll dafür erst ab 76 200 Euro fällig werden. Wer mehr als 250 000 Euro verdient, soll 48 Prozent Steuern zahlen.

Die FDP fordert eine Einkommensteuersenkung für alle, im Umfang von insgesamt 30 Milliarden Euro. Außerdem will die Partei die Gesamtbelastung mit Steuern und Abgaben auf 50 Prozent begrenzen, die Steuertarife sollen regelmäßig an die Inflation angepasst werden. Die Grünen wollen den Grundfreibetrag anheben und so kleine und mittlere Einkommen entlasten und zur Gegenfinanzierung den Spitzensteuersatz oberhalb von 100 000 Euro erhöhen. Die Linke will alle Bürger entlasten, die weniger als 7100 Euro brutto im Monat verdienen (entspricht 85 200 Euro im Jahr). Für hohe Einkommen solle der Steuersatz dagegen deutlich steigen: auf 60 Prozent für den Teil des Einkommens, der über 260 000 Euro Jahreseinkommen liegt und auf 75 Prozent auf den Teil des Einkommens, der oberhalb einer Million Euro liegt. Die AfD will Steuern für Familien senken, den Grundfreibetrag erhöhen und die Steuergrenzen so anheben, dass Gering- und Durchschnittsverdiener entlastet werden.

Eine Vermögensteuer fordern nur die Grünen und die Linken. Die anderen Parteien machen dazu entweder keine Aussage oder lehnen sie wie die Union explizit ab.

Valentin Dornis

Eine Gesamtübersicht über die Wahlprogramme der Parteien finden Sie hier.

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