Das Deutsche Valley:Doktor Offline

Das Deutsche Valley: undefined

Deutschland könnte digitales Entwicklungsland werden, warnt die Kanzlerin. Nirgends ist die Gefahr so groß wie in der Medizin.

Von Ulrich Schäfer

Eigentlich ist Angela Merkel ja davon überzeugt, dass Deutschland große Chancen in der Digitalisierung hat. Aber manchmal packen auch sie die Zweifel. Erst neulich hat die Kanzlerin davor gewarnt, dass die Bundesrepublik zum digitalen Entwicklungsland verkommen könne, wenn wir es mit dem Datenschutz übertreiben und dadurch die Chance verpassen, Big Data zum Wohle aller zu nutzen.

Der Arzt Udo Beckenbauer teilt diese Sorge. Er ist in der alten Welt zu Hause, im Herzen von München: Gegenüber seiner Praxis für Innere Medizin befindet sich der Franziskaner, eines der großen Münchner Traditionslokale, ums Eck sind die Staatsoper und die Residenz. Gedanklich bewegt sich Beckenbauer aber in der neuen, digitalen Welt. Wenn man sich mit ihm im Franziskaner zum Mittagessen trifft, nicht bei Haxe und Weißbier, sondern Salat und Wasser, redet er mit Verve über die Möglichkeiten, die eine moderne, datenbasierte Medizin bieten könnte.

Beckenbauer glaubt, dass die Digitalisierung in kaum einem Bereich unseres Lebens derart viel Positives bewirken kann. Doch immer wieder verwandelt sich der Optimistist Beckenbauer in einen Pessimisten, der schwarz sieht für das Land im Allgemeinen und die datenbasierte Medizin im Besonderen, die ständig auf Widerstände und an Grenzen stößt: "Man hat den Eindruck, als sei der Datenschutz alles - und das Interesse der Patienten nichts."

Er redet dann zum Beispiel von Ärzten und Funktionären, die sich gegen die elektronische Gesundheitskarte wehren, jenen Datenträger, über dessen Einführung Politik, Krankenkassen und Ärztelobbyisten seit eineinhalb Jahrzehnten debattieren. Auf der Karte sollen nicht bloß Geburtsdatum, Name oder Anschrift der Patienten gespeichert werden, sondern auch Blutgruppe, Krankheiten, Allergien und verschriebene Medikamente; jeder Arzt könnte das dann auslesen. Deutschland hätte diese Karte als eines der ersten Länder der Welt einführen können - wenn sich nicht alle so schwer mit der Digitalisierung täten.

Beckenbauer kann gut verstehen, dass auch die Kanzlerin deswegen schimpft: "Wenn das das Tempo der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sein wird, werden wir nicht sehr erfolgreich sein." Es müsse, fordert Merkel völlig zu Recht, darum gehen, eine bessere Balance zu finden: zwischen dem Datenschutz auf der einen Seite und dem Umgang mit großen Datenmengen auf der anderen Seite.

Was mit digitalen Gesundheitsdaten im Großen möglich ist, das zeigt Beckenbauer im Kleinen mit seinem Unternehmen Health Management Online (HMO), das er zusätzlich zu seiner Praxis gegründet hat. Es betreibt ein Internetportal namens www.krebszweitmeinung.de, über das Krebspatienten alle Dokumente ihres Arztes in eine digitale Patientenakte hochladen können. Sie erhalten anschließend eine zweite, unabhängige Diagnose. HMO arbeitet dabei mit den Tumor-Boards, den Expertengremien, von 32 Krebszentren in Deutschland zusammen.

In rund 40 Prozent der Fälle weicht die zweite Diagnose von der ersten ab. Manchmal empfehlen die Experten, dass die Therapie ergänzt, die Chemo-Therapie umgestellt oder zusätzliche Untersuchungen durchgeführt werden sollen. In einem Sechstel der Fälle kommen sie aber auch zu einem völlig anderen Ergebnis. Beckenbauer sieht den Grund dafür weniger bei den Ärzten selbst, sondern vor allem darin, dass die Forschung immer schneller voranschreitet und sich das Wissen über Krebserkrankungen alle 24 Monaten verdoppelt; ein einzelner Mediziner kann mithin gar nicht mehr alles wissen kann.

"Wenn man alle Daten zusammenführt, kann man Erkrankungen früher erkennen."

Big Data sieht Beckenbauer deshalb als Chance: Wenn Patientendaten nicht mehr in irgendwelchen Handakten oder auf Rechnern verschiedener Praxen verstauben, sondern in einer einzigen elektronischen Akte gesammelt werden, lassen sich diese Daten viel besser zum Wohle der Patienten nutzen. Dann können sich andere Mediziner problemlos eine zweite Meinung bilden; was auch demjenigen hilft, der die erste Diagnose gestellt hat. "Unsere Daten zeigen, dass durch eine Zweitmeinung die Heilungschancen deutlich erhöht werden", sagt Beckenbauer.

Irgendwann wird es zudem möglich sein, eine Diagnose mit Zehntausenden oder Hunderttausenden ähnlichen Befunden abzugleichen. Der deutsche Softwarekonzern SAP überträgt zum Beispiel gerade zusammen mit der amerikanischen Onkologenvereinigung die Daten von Millionen Krebspatienten in eine große Datenbank. "Wenn man alle Daten zusammenführt", sagt SAP-Mitgründer Hasso Plattner, Sohn eines Arztes, "kann man Erkrankungen besser einschätzen. Und man kann Vorhersagen treffen, frühzeitig behandeln und viel Geld sparen."

Natürlich muss man die Daten dazu anonymisieren; niemand soll befürchten müssen, dass seine Krankendaten, verknüpft mit dem eigenen Namen, publik werden. Big Data und Datenschutz müssen also kein Widerspruch sein. So sieht das auch Udo Beckenbauer. Das Rechenzentrum, das sein Unternehmen HMO nutzt, ist dem deutschen Datenschutzrecht unterworfen, zudem hat das Bundesversicherungsamt das gesamte Konzept mehr als ein Jahr lang geprüft. Mehr als 5000 Patienten haben mittlerweile die Zweitmeinung genutzt.

Aber was Beckenbauer leistet, ist eben nur ein kleiner Schritt. Wenn sich Patienten und viele Ärzte weiterhin gegen Vernetzung und Big Data sperren, dann wird Deutschland, trotz seiner großen Tradition auf diesem Feld, in der Medizin in der Tat zurückfallen. Dann werden immer mehr andere Länder ihre Patienten besser versorgen. Und dann könnte Merkels düstere Warnung vom digitalen Entwicklungsland in diesem Bereich eben doch noch wahr werden.

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Alina Fichter und Ulrich Schäfer im Wechsel.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: