Colin Crouch:Die verdummte Gesellschaft

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Der Professor rechnet mit dem Neoliberalismus ab - mal wieder. Der Brite untersucht, wie Privatisierungen und Kennzahlen-Fetischismus schaden. Ein provokantes Werk.

Von Björn Finke, London

Jetzt also der dritte Streich: Schon 2004 veröffentlichte der britische Soziologe und Politikwissenschaftler Colin Crouch mit "Postdemokratie" einen Klassiker linker Kritik an Globalisierung und Neoliberalismus. Das Buch wurde ein Bestseller. Sieben Jahre später legte der inzwischen emeritierte Professor nach mit "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus: Postdemokratie II". Der Friedrich-Ebert-Stiftung war das Werk ein Buchpreis wert. An diesem Montag nun erscheint bei Suhrkamp "Postdemokratie III"; der komplette Titel lautet "Die bezifferte Welt: Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht".

Und auch dieses 250 Seiten starke Buch (Preis: 21,95 Euro) bietet reichlich Stoff für Debatten. Crouch untersucht, was passiert, wenn Regierungen den öffentlichen Dienst - die Verwaltung, das Gesundheitswesen, Schulen und Universitäten - immer stärker der Logik von Märkten unterwerfen. Staatsbetriebe werden privatisiert, Aufgaben werden an billigere Firmen ausgelagert, und Staatsbedienstete werden gezwungen, bei ihrer Arbeit bestimmte Kennzahlen zu erreichen, wenn sie einen netten Bonus und keinen Ärger mit dem Vorgesetzten haben wollen. Ganz wie in börsennotierten Konzernen. Der Bürger wird dabei zum Kunden ernannt, angeblich zu seinem Nutzen.

In Deutschland bezeichnet etwa die Bundesagentur für Arbeit die Jobsuchenden als Kunden; die Riesenbehörde wird über Zielvereinbarungen geführt - und musste sich schon Vorwürfen erwehren, ihre Erfolgsstatistiken geschönt zu haben. Die Privatisierung von Krankenhäusern ist immer wieder ein Aufregerthema, und manche Kommunen kaufen Strom- oder Wassernetze zurück, weil sie mit den Diensten privater Anbieter unzufrieden sind.

In seinem Buch schreibt Crouch, dass es durchaus Vorteile habe, wenn Behörden unternehmerisch denken, doch sieht er eben auch schwerwiegende Nachteile. Von der Entwicklung gehe "die Gefahr einer allgemeinen Verdummung" aus, heißt es da. Zugleich werde das Vertrauen der Bürger ausgehöhlt und die Bereitschaft, moralisch zu handeln. Denn die Kenntnisse hoch qualifizierter Ärzte, Lehrer oder Juristen würden im Arbeitsalltag abgewertet: Es geht nicht mehr darum, mit seinen Fähigkeiten dem Bürger bestmöglich zu dienen. Sondern darum, Vorgaben zu erreichen, die sich schlechter informierte Manager oder Politiker ausgedacht haben.

Demonstration gegen Studiengebühren vor dem Parlament in London: Die britische Regierung setzt stark auf Märkte - auch in der Bildungspolitik. (Foto: Ben Stansall/AFP)

Lehrer trainieren dann Schüler stumpfsinnig darauf, in Tests gut abzuschneiden, damit ihre Schule in Ranglisten prima dasteht - und sich im Wettbewerb gegen andere Schulen, also im Bildungs-Markt, behaupten kann. Britische Universitäten müssen sich stärker über Studiengebühren finanzieren und dampfen Fachbereiche ein, bloß weil diese wenig Studenten anlocken. Polizisten wimmeln Opfer ab anstatt Anzeigen aufzunehmen, damit die Aufklärungsquote stimmt. Und werden Ziele nicht erreicht, muss gemäß der Logik des Marktes ein Bonus die richtigen finanziellen Anreize setzen: So war der englische Gesundheitsdienst NHS besorgt, dass Hausärzte zu selten die Diagnose Demenz stellen. Prompt lobte der NHS 75 Euro Prämie aus für jede Demenz-Diagnose. Nach Protesten wurde das Projekt gestoppt.

Crouchs Buch ist keine empirische Studie. Er untersucht nicht systematisch, ob Behörden, die wie Firmen geführt werden, besser oder schlechter arbeiten. Stattdessen argumentiert er theoretisch, flechtet aber viele Beispiele ein - meist Einzelfälle aus Großbritannien, welche die schlimmen Resultate von Privatisierungen und Kennziffer-Fetischismus belegen sollen.

Ursache dieser Entwicklungen sei, dass weltweit die Ideologie eines "Neoliberalismus der Konzerne" vorherrsche: Crouch zufolge dominieren mächtige Unternehmen Märkte und Länder, vom Ideal eines freien Wettbewerbs zwischen zahllosen kleinen Anbietern sei nicht mehr viel zu sehen. Politiker sind den internationalen Konzernen zu Diensten, weil sie fürchten, dass ansonsten Jobs ins Ausland abwandern. Wichtige Entscheidungen handeln Regierung und Wirtschaftseliten im Hinterzimmer aus, während Wahlen und politische Debatten zu einem oberflächlichen Spektakel verkommen - das nennt Crouch eine "Postdemokratie".

Es ist allerdings zweifelhaft, ob Konzerne wirklich so übermächtig sind und Politiker so hilflos, wie Crouch glaubt. Schließlich sind etwa die Energiewende in Deutschland oder das Referendum über einen EU-Austritt Großbritanniens schöne Beispiele dafür, dass Regierungen weiterhin schwerwiegende Entscheidungen treffen, welche die Mehrheit der Wirtschaft vehement ablehnt. Crouch ist außerdem ein wenig unfair zu seinen intellektuellen Gegenspielern. In seinem neuen Buch arbeitet er sich am Wirtschafts-Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek ab.

Der Erz-Liberale Hayek leitete in seinen Werken beeindruckend her, wie Märkte - genauer: die Signale, die von steigenden und fallenden Preisen ausgehen - das ungeheure Wissen bündeln, das in einer Volkswirtschaft verstreut bei Tausenden Firmen und Kunden liegt. Bei Crouch liest sich das nun so, dass Hayek vor lauter Begeisterung für Märkte grundsätzlich davor gewarnt habe, bei wichtigen Entscheidungen Fachleute um Rat zu fragen. Hayek sei somit einer der Wegbereiter der Verdummung der Gesellschaft. Das ist dann doch eine sehr übertriebene Darstellung.

Trotz solcher Schwächen - und eines arg akademischen Stils - lohnt sich die Lektüre des Buchs aber. Es wird manch spannende Diskussion anstoßen.

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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