Boom-Länder in der Krise:Globale Schwellenangst

Boom-Länder in der Krise: Chinesische Arbeiter auf einer Baustelle. Hier sollen Zug-Gleise entstehen.

Chinesische Arbeiter auf einer Baustelle. Hier sollen Zug-Gleise entstehen.

(Foto: AFP)
  • In der Weltwirtschaft bahnt sich eine epochale Wende an. Die Wirtschaft in Russland, Indien, China und Brasilien boomt nicht mehr.
  • Die Gründe: verschleppte Reformen, mangelnde Perspektiven, das Wachstum stößt an Grenzen.
  • Auch für Deutschlands Wirtschaft könnte das Folgen haben.

Von Markus Balser, Elisabeth Dostert und Marcel Grzanna

Als die Krise in Hefei ankam, waren die Arbeitsverträge plötzlich nichts mehr wert. Die Angestellten der Verpackungsfirma Jiwang aus der zentralchinesischen Stadt jedenfalls standen vor der Wahl: Entweder sie akzeptierten weniger Geld, oder der Arbeitgeber würde sie in Naturalien bezahlen. Jiwang bot den Mitarbeitern der untersten Lohngruppe 40 Flaschen hochprozentigen Schnaps, Baijiu - im Supermarkt für rund zehn Euro zu haben.

Die meisten Angestellten entschieden sich für den Alkohol, weil sie Angst hatten, völlig leer auszugehen. Vermutlich die richtige Entscheidung. Wenige Wochen später stellte die Firma den Betrieb ein. Wirklich berauschende Wirtschaftsnachrichten sind selten geworden aus Fernost. Und nicht nur in China haben für Beschäftigte harte Zeiten begonnen. Die US-Investmentbank JP Morgan hat jüngst in einer Studie ermittelt, dass die Arbeitslosigkeit in den Schwellenländern insgesamt erstmals seit sechs Jahren nicht mehr sinkt, sondern steigt.

Damit bahnt sich eine epochale Wende in der Weltwirtschaft an. Zwei Jahrzehnte haben die wichtigsten Schwellenländer China, Brasilien, Russland, Indien und Südafrika die Weltwirtschaft angetrieben. Ihr Wachstum schien grenzenlos zu sein. Es zog die Weltwirtschaft, verhalf Deutschland zu Exportrekorden. Günstige Arbeitskräfte, Rohstoffvorkommen und ein bislang beispielloser industrieller Aufholprozess entfachten in den fünf Ländern einen Boom, der weltweit Euphorie auslöste.

Im freien Fall

Krise, Krise, Krise: Auch die russische Wirtschaft rutscht tiefer in die Rezession. Zu Jahresbeginn lag das Minus lediglich bei 2,2 Prozent. Diese Woche meldeten die Statistiker für das zweite Quartal einen Einbruch von 4,6 Prozent.

Und die Brics-Staaten erfüllten die hochgesteckten Erwartungen. Ihre Volkswirtschaften wuchsen teilweise mit zweistelligen Raten. Jedes Jahr legten auch die deutschen Exporte in diese Regionen zu. Allein zwischen 2000 und 2010 um jährlich zehn Prozent. Der Daueraufschwung wurde zum Garanten für internationale Jobs, Steuereinnahmen und Firmengewinne. Heute machen die Schwellenländer, lange nur ein Anhängsel der Industrienationen, immerhin fast 60 Prozent der Weltwirtschaft aus.

Verschleppte Reformen, mangelnde Perspektiven

Doch der Boom bricht in diesen Wochen jäh ab. Chinas Wirtschaft wächst 2015 viel langsamer. Im Durchschnitt der Schwellenländer erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) nur noch gut vier Prozent Wachstum in diesem Jahr. Brasilien steckt in der Rezession, weil der Rohstoffexport weniger einbringt. Bei Russland kommt dazu noch die politische Isolation infolge der Ukraine-Krise. Und auch Südafrikas Wachstum wird nach Prognosen der OECD schwach ausfallen. Während sich Europas Politiker in den vergangenen Wochen voll und ganz auf die Lösung der Griechenland-Krise konzentrierten, bahnt sich damit in den fernen Weltregionen ein Problem an, das Europa und vor allem Deutschland noch härter treffen könnte als Griechenland.

Lange hatten Investoren gehofft, dass Sonderfaktoren wie die Russland-Sanktionen die Krise der Schwellenländer ausgelöst haben könnten. Doch langsam zeichnet sich ab: Es geht um mehr. Um verschleppte Reformen und mangelnde Perspektiven. Die Krise habe konjunkturelle, aber auch strukturelle Gründe, sagt Klaus-Jürgen Gern, Experte vom Prognosezentrum am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Das hohe Wachstum etwa in China war auch einem simplen Phänomen zu verdanken: Bauern begannen, in Fabriken zu arbeiten. Die Produktivität stieg. Nun stößt diese Form des Wachstums an ihre Grenzen. Länder wie Brasilien und Russland verließen sich zudem zu sehr auf den Verkauf ihrer Rohstoffe, ohne mehr eigene Industriezweige zu entwickeln.

Reinhold Festge weiß, was eine Schwellenländerkrise für die deutsche Wirtschaft bedeutet. Der Präsident des Maschinen- und Anlagenbauverbandes VDMA hat hautnah erlebt, wie die Bedeutung der Länder für deutsche Firmen gewachsen ist. Im Sommer 1980 zog er mit seiner Familie im Auftrag des Schwiegervaters nach Campinas, gut 100 Kilometer nördlich von São Paulo. Das Werk von Haver & Boecker, einem Hersteller von Anlagen für Bergbau und Zementindustrie, dort lief schlecht. Einen Container hatten die Festges aus Oelde nicht gepackt, nur einen Koffer. "Wir waren der Meinung, wenn man in ein fremdes Land geht, muss man aus dem Land heraus leben", sagt Feste.

Schwächeln die Länder langfristig, treffe das die deutsche Wirtschaft hart

Das war schon damals eines in der Krise. Brasilien litt unter den Folgen des Ölpreisschocks. Binnen weniger Jahre war der Wert des Cruzeiro, der damaligen Landeswährung, dramatisch eingebrochen. Überall im Land gab es Streiks. Die Brasilianer selbst bezeichneten ihre Heimat als "Land der Zukunft" - einer Zukunft allerdings, die wohl nie kommen werde. Doch mit der Globalisierung wuchs das Interesse der Investoren. Haver & Boecker kam nicht allein nach Campinas. Mercedes baute Busse dort, Bosch war da, Westfalia Separator und ein paar andere Mittelständler aus Ost-Westfalen. "Wir wurden von den Einheimischen warmherzig empfangen, obwohl ich nur gebrochen Portugiesisch sprach", erinnert sich Festge. "Die schätzten die deutsche Technik."

Eine anhaltende Schwächephase der Brics-Länder würde die deutsche Wirtschaft hart treffen. Etwa 300 Menschen beschäftigte Haver & Boecker damals in dem 1974 eröffneten Werk. Heute sind es drei Werke. Für den Mittelständler aus Oelde ist Brasilien mit einem Anteil von 15 Prozent an den Erlösen der größte Auslandsmarkt. So geht es vielen der 1400 deutschen Firmen, die in Brasilien aktiv sind. China ist heute gar der viertgrößte Absatzmarkt für deutsche Exporteure. Binnen eines Jahrzehnts hat sich der Anteil der China-Ausfuhren am Gesamtexport auf sieben Prozent verdreifacht.

Dass die Probleme der einstigen Dauergewinner nicht nur kurzfristig sind, verunsichert auch führende Ökonomen. "Das Wirtschaftsklima verschlechtert sich nahezu in allen Regionen", warnt Hans-Werner Sinn, der Präsident des Ifo-Instituts. Ein bis zwei Jahre fielen die Schwellenländer wohl als Zugpferd der Weltkonjunktur aus, glaubt das Kieler Institut für Weltwirtschaft. "Das macht mir schon Sorgen", sagt auch Unternehmer Festge. Schlimmer noch als die Rezession sei allerdings, dass die Menschen in Brasilien angesichts der Krise das Vertrauen in den Staat und Politiker verloren hätten. "Wenn die Bevölkerung den Entscheidern misstraut, ist das gefährlich. Das sieht man nicht nur in Brasilien."

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