Bildung:Die Nachbarn können es besser

Skandinavien schafft mehr Chancen im Bildungssystem, Deutschland bleibt zurück - zum Nachteil des ganzen Landes.

Von Alexander Hagelüken

Wenn Natalie ihre Hausaufgaben erledigt, ist sie auf sich allein gestellt. Ihr Vater starb früh an den Folgen eines schweren Arbeitsunfalls. Ihre Mutter, die keinen Schulabschluss hat, kann sie nicht unterstützen. Die Mutter ist froh, dass sich Natalie, die in Wahrheit anders heißt, nach einer wilden Phase in der Pubertät überhaupt wieder für die Schule interessiert. Wer die Lehrer des 17-jährigen Mädchens aus Frankfurt fragt, erhält eindeutige Antworten. Sie halten Natalie für so intelligent, dass sie eines Tages studieren sollte.

Nur ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit ihrer Herkunft auf einer Universität landet, in der Bundesrepublik des Jahres 2016 gering.

Deutsche Politiker machen sich seit Jahrzehnten für Chancengerechtigkeit stark. Bildung soll möglichst jedem Deutschen den sozialen Aufstieg ermöglichen. Die Erfolge sind überschaubar: Noch immer studiert nur jedes vierte Arbeiterkind, aber drei Viertel aller Akademikerkinder, wie Zahlen des deutschen Studentenwerks belegen. Wenn Schüler mit gleichen Kompetenzen verglichen werden, enthüllt sich eine noch drastischere Schieflage: Der Akademikernachwuchs besucht mit vier Mal so großer Wahrscheinlichkeit das Gymnasium wie Jugendliche aus dem falschen Viertel.

Die mangelnde Bildung benachteiligter Kinder ist längst auch zu einem wirtschaftlichen Problem geworden. Die deutsche Wirtschaft ruft seit Jahren nach mehr Fachpersonal. Aktuell suchen deutsche Unternehmen knapp 200 000 Mitarbeiter mit Kenntnissen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik, listet der Mint-Report des Instituts der deutschen Wirtschaft auf. Es sind vor allem die besonders innovativen Unternehmen, die die meisten Studenten und Auszubildende dieser Fachrichtungen suchen, stellten die Wissenschaftler in dem Report fest.

Die Kita ist in Dänemark für einkommensschwächere Familien kostenlos

Bereits in fünfzehn Jahren fehlen nach manchen Schätzungen drei bis acht Millionen Arbeitskräfte. Aber das deutsche Bildungssystem versagt darin, Kinder einkommensschwächerer Eltern zu diesem Fachpersonal auszubilden, kritisieren Gerhard Bosch und Torsten Kalina von der Universität Duisburg-Essen: "Unser Bildungssystem hält nicht Schritt mit der steigenden Nachfrage nach Fachkräften und produziert stattdessen am Markt vorbei zu viele Jugendliche ohne Berufsabschluss, die dann nur sporadisch oder in Teilzeit beschäftigt werden." In zehn Jahren könnten 1,3 Millionen Geringqualifizierte auf dem Arbeitsmarkt landen, die die Wirtschaft nicht braucht.

Dagegen würden sich bessere Leistungen der heimischen Schüler im internationalen Bildungsvergleich Pisa für die deutsche Volkswirtschaft auszahlen: "Wenn Deutschland zu Pisa-Spitzenreitern wie Japan, Korea, Finnland oder Kanada aufschließen würde, könnte unser langfristiges Wachstum deutlich ansteigen", sagt der Leiter des Zentrums für Bildungsökonomik am Münchner Ifo-Institut, Ludger Wößmann.

Nun zeigt eine neue Untersuchung, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, welche Erfolge sich erzielen lassen - jedenfalls wenn ein Land wirklich konsequent in Chancengerechtigkeit investiert. Julia Bredtmann vom Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI und ihre Kollegin Nina Smith nahmen sich den Fall Dänemark vor, dessen Wohlfahrtsstaat sich traditionell auf das Bildungssystem erstreckt. "In Dänemark gibt es eines der umfangreichsten und qualitativ besten frühkindlichen Betreuungssysteme", erklärt Bredtmann.

Bildung: Dänische Studenten feiern ihren Highschool-Abschluss.

Dänische Studenten feiern ihren Highschool-Abschluss.

(Foto: mauritius images)

Die Kita ist in dem skandinavischen Land für Einkommensschwächere kostenlos. Bereits ab einem Jahr gehen die meisten Kleinkinder dorthin, was in Deutschland meist erst ab drei Jahren der Fall ist. In der langen Zeitspanne bis zum Schulbeginn lassen sich in Dänemark viele Nachteile kompensieren, die benachteiligte Kinder in Deutschland bis in ihr Schulalter mitschleppen. Wer das Abitur geschafft hat, muss sich dann keine Sorgen machen, ob ihn die Eltern während eines Hochschulbesuchs finanziell unterstützen können. Studenten bekommen Zuschüsse, die sie nicht zurückzahlen müssen.

Die Erfolge dieser Chancenpolitik sind eindeutig, erläutert Bredtmann: "Dänemark reduziert die Bildungsungleichheit stark." Wie viele Schuljahre ein Däne absolviert, ob er ohne Abschluss von der Schule abgeht oder das Abitur schafft, hängt nur zu 15 bis 33 Prozent von seiner Herkunft ab. Auch in anderen skandinavischen Ländern wie Norwegen und Schweden, die ebenfalls stark in mehr Chancengerechtigkeit investieren, liegt dieser Anteil nur bei 40 Prozent. Ganz anders dagegen in der Bundesrepublik: Hier hängt der Bildungserfolg zu 60 Prozent von der Herkunft ab, wie Studien zeigen. Dieser Wert ist so schlecht wie in den Vereinigten Staaten, die traditionell als besonders ungleich gelten.

Das Einkommen der Eltern entscheidet mit über den Erfolg der Kinder in der Schule

Forscherin Bredtmann ermittelte auch, worauf es bei der Herkunft genau ankommt. Den größten Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder üben das Einkommen, der Beruf und die Ausbildung der Eltern aus. "Eltern, die viel verdienen, können ihre Kinder besser unterstützen, etwa indem sie ihnen Nachhilfe finanzieren oder eine Privatschule", erklärt Bredtmann, die die RWI-Forschungsgruppe Migration und Integration leitet. "Eltern, die beide über einen Universitätsabschluss verfügen, vermitteln Kindern stärker, wie wichtig Bildung ist - und setzen sich nachmittags daher eher gemeinsam mit den Kindern hin, wenn es in Mathe gerade nicht läuft."

Mit der Schülerin Natalie aus Frankfurt setzte sich nachmittags niemand hin, wenn es in bestimmten Fächern gerade nicht lief. So viel lässt sich aus den Aussagen von Sozialbetreuern über ihr Leben ableiten. Als Natalie zehn Jahre alt war, war für sie das Gymnasium unerreichbar - mit ihrer Intelligenz hatte das nichts zu tun. Die Schülerin hatte trotzdem Glück. Sozialbetreuer der Familie kümmerten sich darum, dass sie intensive Nachhilfe erhielt. Mit 15, also mit fünf Jahren Verspätung, schaffte sie den Sprung aufs Gymnasium. Solange eine solche Förderung ein Einzelfall bleibt, statt das Ergebnis einer politischen Strategie zu sein, ist es um die Aussichten vieler benachteiligter Kinder schlecht bestellt.

Forscher wie Julia Bredtmann glauben, dass es auch eine ganze Reihe von schwer messbaren Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Eltern gibt, die Kinder beeinflussen. Dazu zählt beispielsweise mangelndes Wissen darüber, wie sehr der Bildungsabschluss den Verdienst bestimmt. Dabei verdient ein Bundesbürger mit Hochschuldiplom nach einer Untersuchung des Nürnberger IAB-Instituts im Laufe seines Arbeitslebens eineinviertel Millionen Euro mehr als jemand ohne Berufsabschluss.

Bildung: Japanische Schüler schneiden in Bildungsvergleichen in der Regel besser ab als deutsche.

Japanische Schüler schneiden in Bildungsvergleichen in der Regel besser ab als deutsche.

(Foto: Daisuke Tomita/AP)

Zu den schwer messbaren Einflussfaktoren zählt auch, ob Eltern der betroffenen Kinder glauben, dass man sein Leben durch eigene Anstrengungen selbst bestimmen kann - oder ob die Eltern fatalistisch sind und das an ihre Kinder weitergeben, bewusst oder unbewusst. Natalies Mutter arbeitet seit vielen Jahren nicht mehr. Sie ist auf Hartz IV angewiesen. Wer sie besucht, sieht im Wohnzimmer meist den Fernseher laufen.

Die Essener RWI-Studie ist ein weiterer Beleg dafür, wie wenig es dem deutschen Bildungssystem gelingt, Chancengerechtigkeit zu erzeugen. Die Herkunft beeinflusst den Schulabschluss in Deutschland stärker im Durchschnitt der OECD-Staaten. Und die Unterschiede sind gewaltig. Die Schülerleistungen in Mathematik klaffen zwischen den stärksten und den schwächsten zehn Prozent der deutschen Schüler um den Wissenstand von ganzen neun Schuljahren auseinander. Neun Jahre? Bei 15-Jährigen lässt sich dieser Bildungs-Grand-Canyon an erworbenen Kenntnissen so umrechnen: Es ist, als ob die Starken schon das Abitur absolviert hätten - und die Schwächeren erst die Grundschule.

Unter Deutschen ohne Berufsabschluss liegt die Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent

Der Schulabschluss ist ganz zentral dafür, was aus jemandem im Leben wird. Bildungsforscher Ludger Wößmann legt einen Schwung Folien auf seinen Besprechungstisch. Dann zieht er eine seiner Lieblingsfolien heraus: Unter Deutschen ohne Berufsabschluss beträgt die Arbeitslosenrate 20 Prozent. Bei jenen mit Lehre oder Fachschule sind es fünf Prozent. Und unter Uniabsolventen? 2,5 Prozent. "Diese Folie sollte bei jedem Elternabend gezeigt werden", fordert Wößmann. "Es wird oft vor Akademikerarbeitslosigkeit gewarnt. Aber die gibt es in Wahrheit kaum."

Der Münchner Forscher sorgt sich, dass das Bildungssystem zur wachsenden Ungleichheit in der Bundesrepublik beiträgt. "Bessere Bildung erhöht das Einkommen. Wenn Bildungsleistungen stark vom Elternhaus abhängen, klaffen auch die späteren Einkommen stark auseinander." Weil vielen Deutschen klar sei, dass in Deutschland eben keine Chancengerechtigkeit herrsche, schwinde die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft. "Die viel diskutierte Schere zwischen Arm und Reich wird aufgrund der steigenden Ungleichheit in den Bildungsleistungen weiter aufklappen."

Das Mädchen Natalie hat von dem Zufall profitiert, dass ihre Familie Sozialbetreuer hat und die sich um ihren schulischen Werdegang kümmern. Sie schaffte es ans Gymnasium. Ob sie wirklich an die Universität gelangt, wie es ihren Lehrern vorschwebt, ist noch nicht klar.

In einem Leben wie ihrem lauern viele Hindernisse.

Ganz entscheidend aber ist: Wenn die Förderung so wie bei Natalie ein Zufall bleibt, werden noch viele benachteiligte Kinder im deutschen Bildungssystem zu Verlierern.

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