Bilanz:Ein Jahr Mindestlohn - geht doch!

Callcenter Kikxxl

In der Callcenter-Branche haben viele Mitarbeiter vom Mindestlohn profitiert.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Die historische Reform wurde mit viel Streit beschlossen. Jetzt ist klar: Das große Jobsterben ist nicht eingetreten. Trotzdem ist nicht alles gut.

Kommentar von Thomas Öchsner, Berlin

Mit Prognosen kann man ganz schön danebenliegen - erst recht, wenn dabei eigene Vorurteile mitschwingen. Dies zeigt sich nun auch ein Jahr nach Einführung des Mindestlohns in Deutschland.

Bei denjenigen, die die gesetzliche Untergrenze von 8,50 Euro pro Stunde schon immer für Teufelszeug hielten, fielen die Schreckensszenarien besonders düster aus. Das Arbeitgeberlager etwa sah schon Hunderttausende Stellen verloren gehen, weil viele Arbeitskräfte dann nicht mehr rentabel wären. Zwölf Monate später ist klar: Das große Jobsterben ist nicht eingetreten. Wer deswegen glaubt, beim Mindestlohn stehe alles zum Besten, unterliegt allerdings einem Irrtum.

Man muss wohl sagen: Bis jetzt ist alles ziemlich gut gegangen. Die historische Reform hat dabei geholfen, dass Beschäftigte, die sich nicht selbst schützen und auf keine kampfstarke Gewerkschaft bauen können, mehr Geld bekommen. Wer zum Beispiel Pizzen ausfährt, im Café bedient oder im Callcenter Handytarife erklärt, kann sich jeden Monat über ein paar Euro mehr freuen. Die Bezahlung von an- und ungelernten Arbeitskräften ist dieses Jahr überdurchschnittlich stark gestiegen. Das hat das Statistische Bundesamt bestätigt, wenn auch noch unklar ist, wie viele Millionen Arbeitnehmer vom Mindestlohn wirklich profitiert haben.

Aus Minijobs werden Stellen

Die Untergrenze hat auch nicht den Beschäftigungsboom abgewürgt. Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit 1991 nicht mehr. Bis Ende September wuchs die Zahl der regulären sozialabgabenpflichtigen Stellen um fast 700 000. Nun ist zugleich die Zahl der Minijobs, bei denen die Stundenlöhne bislang besonders niedrig waren, deutlich zurückgegangen.

Doch dieser Abbau wurde durch andere neue Stellen mehr als ausgeglichen - selbst in den Branchen wie im Handel oder der Gastronomie, in denen die 450-Euro-Stellen weit verbreitet und die Löhne meist niedrig sind. Dies deutet darauf hin, dass Arbeitgeber Minijobs, die gerade für Frauen später Altersarmut bedeuten können, in reguläre Stellen umgewandelt haben. Das ist ein Riesenerfolg.

Allerdings war der Zeitpunkt für die Einführung der 8,50-Euro-Untergrenze auch besonders günstig: Die Wirtschaft floriert, zusätzlich stimuliert durch niedrige Zinsen, billiges Öl und einen günstigen Euro-Wechselkurs. Produkte "Made in Germany" sind nach wie vor gefragt. Viele Unternehmen suchen weiter Mitarbeiter. Die gute Konjunktur hat somit mögliche negative Effekte des Mindestlohns überdeckt. Trübt sich die Wirtschaftslage ein, kann dies schnell weniger gut aussehen, weil Arbeitgeber dann eher Jobs abbauen. Schon jetzt dürften unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ein paar Zehntausend Arbeitsplätze durch den Mindestlohn verschwunden sein. Auch weiß keiner, wie viele Jobs wegen der 8,50 Euro nicht geschaffen wurden.

Es darf jetzt keine Ausnahmen für Flüchtlinge geben

Für eine unbekannt große Gruppe der Arbeitnehmer gilt der Mindestlohn außerdem nur auf dem Papier. Viele Betriebe beuten Mitarbeiter aus. Köche schreiben ihre Überstunden in Luxushotels nicht auf, um ihre Stelle nicht zu verlieren. Zimmermädchen putzen für wenige Euro, weil sie ihr Soll nur durch unbezahlte Mehrarbeit schaffen. Rumänische Bauarbeiter, von organisierten Kriminellen ins Land gelockt, verdingen sich als Scheinselbständige auf Baustellen zu Hungerlöhnen. In dieser Parallelwelt des deutschen Arbeitsalltags wird so getrickst, getäuscht und gelogen, dass der Zoll die Ausbeuter oft nur schwer überführen kann.

Bei den Kontrollen sollte die Bundesregierung deshalb hart bleiben. Nur wenn die Arbeitgeber bei Minijobbern und den für Schwarzarbeit besonders anfälligen Branchen die Arbeitszeit weiter dokumentieren müssen, besteht überhaupt die Chance, Betrüger zu entlarven.

Erfolg nicht aufs Spiel setzen

Es darf auch keine Ausnahmen für Flüchtlinge geben, um Geschäftspraktiken auf der Schattenseite des Jobwunders keinen neuen Nährboden zu bieten. Außerdem verhindert die gesetzliche Lohnuntergrenze, dass anerkannte Asylbewerber auf eine Berufsausbildung verzichten. Die 8,50 Euro sind ein Anreiz zu lernen und sich weiter zu qualifizieren, statt sich eine einfache Arbeit für fünf, sechs Euro die Stunde zu suchen. Ohnehin haben Arbeitgeber bereits die Möglichkeit, Flüchtlinge für den Einstieg in den Arbeitsmarkt fit zu machen, ohne ihnen in dieser Zeit die 8,50 Euro zahlen zu müssen.

Der Mindestlohn ist eine soziale Errungenschaft, die sich Deutschland leisten kann. Nur sollte man die bisherigen Erfolge bei der anstehenden Anpassung nicht aufs Spiel setzen. Wer jetzt schon für 2017 einen kräftigen Aufschlag auf die 8,50 Euro fordert, trägt dazu bei, dass die Schwarzseher doch noch ein bisschen recht bekommen könnten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: