Bevölkerungsstudie:Nur die Alten bleiben

Bis 2030 wird die Landbevölkerung in Deutschland stark schrumpfen. Berlin wird aus allen Nähten platzen - und München eine der jüngsten Kommunen sein.

Von Anne Kostrzewa, Berlin

"Berlin is ja so groß", wunderte sich Otto Reutter schon im Jahr 1913. In seinem Gassenhauer hieß es: "Denkt man, man kennt Berlin, dann ist's schon wieder größer, als wie es früher schien." Die Bevölkerung der Spreemetropole hatte gerade die Zweimillionen-Marke durchbrochen. Was Reutter da noch nicht wissen konnte: Die Einwohnerzahl würde zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg noch mehr als doppelt so hoch klettern - ein Gedränge, das Berlin nach 1945 nie mehr erreichen sollte. Bald aber könnte es wieder so weit sein. Die neue Bevölkerungsprognose der Bertelsmann-Stiftung sagt voraus, wo im Jahr 2030 die meisten Deutschen leben werden, welche Regionen demografisch ausbluten und wie sich bis dahin die Aufteilung zwischen Jungen und Alten in der Gesellschaft verändern wird. Demnach wird Deutschland in den nächsten 15 Jahren um mehr als eine halbe Million Einwohner schrumpfen, auf dann 79,97 Millionen Menschen.

Wie ungleich dieser Bevölkerungsrückgang sich auf die Republik verteilt, zeigt sich in Berlin. Die Stadt wird 2030 aus allen Nähten platzen. 3,71 Millionen Menschen werden dann in der Hauptstadt leben, noch einmal 340 000 mehr als heute. Mit einem prognostizierten Plus von 10,3 Prozent seit 2012 führt Berlin das Ranking des Einwohnerwachstums an, gefolgt von Hamburg. Die Hafenstadt wird 2030 rund 1,86 Millionen Einwohner haben, ein Plus von 7,5 Prozent.

Wer es nicht bis in die Städte schafft - etwa weil er die aus dem Ansturm zu erwartenden Mietpreissprünge nicht zahlen kann -, wird so nah ran ziehen, wie es eben geht: in die Speckgürtel. Auch dort erwartet die Studie Bevölkerungszuwächse von bis zu einem Viertel der heutigen Einwohnerzahlen. Als besonders wachstumsversprechend genannt werden Unterföhring und Feldkirchen bei München, Teltow südlich von Berlin und Ilvesheim im Rhein-Neckar-Gebiet, zwischen Mannheim und Heidelberg. Dort wird sich die Einwohnerzahl jeweils um mehr als ein Viertel vergrößern. Insgesamt dichter wird es in Bayern (plus 3,5 Prozent), Baden-Württemberg (2,1 Prozent) und Hessen (1,8 Prozent).

Die Untersuchung berücksichtigt zwar auch die prognostizierte Zuwanderung von Migranten. Viele Neubürger der Wachstumsregionen werden aber vor allem aus dem innerdeutschen ländlichen Raum zuziehen. Dieser ist beim Blick in Deutschlands Zukunft der große Verlierer, vor allem im Osten. Am schlimmsten trifft es Sachsen-Anhalt. Bis 2030 werden 13,6 Prozent der Einwohner das Bundesland verlassen. Für Bitterfeld-Wolfen sieht es besonders düster aus, mehr als ein Viertel der heute gut 41 000 Bewohner wird dann aus dem Ort verschwunden sein. Ein weiteres Negativbeispiel ist Roßleben in Thüringen. Von 5400 Einwohnern wird auch dort mehr als ein Viertel die Stadt verlassen. Thüringen verliert bis 2030 insgesamt 9,9 Prozent seiner Einwohner. Mecklenburg-Vorpommern und Saarland steuern auf ein Minus von je 7,9 Prozent zu.

Die große Herausforderung dieser schrumpfenden Regionen ist die alternde Bevölkerung. Je ländlicher die Region, desto schwieriger ist es, junge Menschen zu halten. Wer jung ist, zieht weg, in die Städte, wo es Bildungsangebote, Kultur, eine Arbeit gibt. Zurück bleiben die Älteren, in einer bröckelnden Infrastruktur, die sie gerade im Alter besonders dringend bräuchten. Die Wege zu Ärzten sind dort oft unverhältnismäßig weit, vor allem Hausarztpraxen auf dem Land müssen schließen, weil sie keinen Nachwuchs mehr finden. Dorfläden rentieren sich kaum noch, die großen Supermärkte liegen dann außerhalb der Orte in Industriegebieten. Und wer mal in die Stadt möchte, ins Kino oder Theater, der muss die Spielzeiten mit den Fahrplänen des öffentlichen Nahverkehrs abstimmen, wenn er kein Auto hat. Ein Teufelskreis, der nur noch mehr Jüngere von dort wegtreibt und andere vom Zuzug abhält.

Binnen 15 Jahren wird sich in Deutschland die Zahl der über Achtzigjährigen verdoppeln

So erklärt sich, dass die Stadtstaaten Berlin und Hamburg bis 2030 nicht nur am stärksten wachsen, sondern die Bevölkerung dort im Schnitt auch besonders jung bleibt. Das sogenannte Medianalter der beiden Metropolen wird dann bei 43 Jahren liegen, was bedeutet, dass gleich viele Einwohner älter und jünger sein werden als 43 Jahre. Ganz anders in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Dort wird das Medianalter 2030 bei 53 beziehungsweise 52,6 Jahren liegen, es wird also deutlich mehr Ältere geben als Junge. Auf kommunaler Ebene nennt die Studie als "jüngste" Kommunen München, Unterföhring und Münster. Die "ältesten" Städte sind Bad Füssing im Kreis Passau (Bayern), Guben im Kreis Spree-Neiße (Brandenburg) und Grömitz in Schleswig-Holstein.

Landflucht

Während Großstädte für Deutsche in der Zukunft immer attraktiver werden, verwaisen ländliche Regionen im Osten Deutschlands.

(Foto: Jens Büttner/dpa)

Aber auch in den Städten werden 2030 deutlich mehr alte Menschen leben als heute. Die Zahlen belegen, was die niedrigste Geburtenrate der Welt mit dem Land anstellen wird. Deutschlandweit wird 2030 die Hälfte der Deutschen älter sein als 48,1 Jahre; bei der letzten Erhebung 2012 lag das Medianalter noch bei 45,3 Jahren. Die Zahl der über Achtzigjährigen verdoppelt sich nahezu, auf dann 6,3 Millionen Senioren. Orte wie Karlsfeld im Kreis Dachau oder Kropp (Kreis Schleswig-Flensburg) müssen sich auf mehr als 180 Prozent mehr Senioren über 80 einstellen. Selbst im ewig jungen Berlin prognostiziert die Studie stolze 75 Prozent mehr über Achtzigjährige. Auch in Schleswig-Holstein und Brandenburg wird sich die Zahl der über Achtzigjährigen mit 68,8 und 60,9 Prozent mehr als verdoppeln. In Nordrhein-Westfalen werden es 36,1 Prozent mehr Menschen über 80 sein, im Saarland 30,8 Prozent mehr. Brigitte Mohn, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung, sieht in dieser Entwicklung eine wesentliche Herausforderung. "Mit dem Anstieg dieser Altersgruppe vergrößert sich auch der Unterstützungs- und Pflegebedarf der Kommunen." Sie fordert: "Es gilt, frühzeitig der Gefahr von Versorgungslücken aufgrund fehlender Pflegekräfte entgegenzuwirken."

Doch auch die moderne Landflucht ist eine Herausforderung, der sich Kommunen zunehmend mehr werden stellen müssen. Ein kreativer Lösungsansatz ist das Projekt "dial4light" der Stadtwerke Lemgo in Nordrhein-Westfalen. Über das Handy kann man damit Straßenlaternen dort aktivieren, wo man sie gerade braucht. Eine Gemeinde, die den mobilen Service schon nutzt, ist Dörentrup. Auch dort ist ein Bevölkerungsrückgang zu beobachten. Und der Ort reagiert.

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