Bei uns in London:Segensreiche Streiks

Immer wieder werden Busse und U-Bahn in London bestreikt. Doch so schlimm ist das für die Kunden gar nicht, fand jetzt eine Studie heraus: Manche von ihnen finden durch die zahlreichen Streiks einen besseren und schnelleren Weg zur Arbeit.

Von Björn Finke

In einer Stadt wie London sind Millionen Menschen auf sie angewiesen. Um zur Arbeit zu kommen. Um zum Einkaufen zu fahren. Um Freunde zu besuchen: Ohne Bus und Bahn wäre das Leben in einer Metropole nicht lebenswert. Eigentlich gar nicht möglich. Umso härter treffen Streiks im Nahverkehr die Bewohner. Die 8,6 Millionen Londoner hatten zuletzt erst wieder Freude mit Arbeitsniederlegungen des U-Bahn-Personals - ausgerechnet im Sommer, wenn die Temperaturen in überfüllten Ersatzbussen schnell Sauna-Niveau erreichen. Doch allen Pendlern, die verschwitzt und Stunden zu spät im Büro eintrafen, spendet jetzt eine Studie von drei Ökonomen der britischen Elite-Universitäten Oxford und Cambridge Trost.

Die Forscher untersuchten die Folgen eines zweitägigen U-Bahn-Streiks in London im Februar vergangenen Jahres. Sie werteten dafür die Daten der elektronischen Fahrkarten für einen Zeitraum von fast drei Wochen aus. So konnten sie ermitteln, wie Pendler auf die Arbeitsniederlegung reagierten. Und was das für Konsequenzen nach Ende des Streiks hatte. Das provokante und nicht gerade intuitive Ergebnis: Die Proteste haben regelmäßigen Passagieren der Tube, wie die U-Bahn in London genannt wird, insgesamt genutzt.

Vom Streik waren nicht alle U-Bahn-Stationen und -Linien betroffen. Viele Pendler versuchten daher ihr Glück mit der Tube; sie waren aber oft gezwungen, ihre tägliche Routine aufzugeben und eine andere Verbindung zum Fahrziel zu wählen. Jeder 20. blieb dieser neuen Verbindung auch nach Ende des Streiks treu, fanden die Volkswirte heraus. Diese Passagiere hatten offenbar erst dank des Streiks bemerkt, dass sie mit einer anderen Linie und anderen Umsteige-Stationen schneller ankommen. Vorher hatten sie sich vermutlich vom Londoner U-Bahn-Netzplan irreführen lassen.

Der ist eine Design-Ikone, stammt ursprünglich aus den 1930er-Jahren und wird heute sogar auf Unterwäsche gedruckt, damit Touristen ihren Lieben zu Hause was typisch Londonerisches mitbringen können. Doch leider stellt der Plan die Entfernungen zwischen Bahnhöfen völlig verzerrt dar, weswegen sich vermeintlich schnelle Verbindungen sehr lange ziehen können. Und umgekehrt.

Die Volkswirte rechneten hoch, wie viel Zeit jene Pendler in den kommenden Jahren einsparen werden, die dank des Streiks einen günstigeren Weg kennengelernt haben. Diese Zeitersparnis stellten sie den Verzögerungen gegenüber, unter denen Zehntausende Passagiere an den zwei Streiktagen gelitten hatten. Das Resultat: Die Gewinne übertreffen die Verluste. Folglich ist so ein Streik in London auf lange Sicht eine gute Sache, weil er dazu zwingt, neue Routen auszuprobieren.

Als Alternative böte sich natürlich an, den Netzplan realitätsnäher zu gestalten. Aber das wäre zu einfach.

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