Automobilindustrie:Wolfsburg an der Wolga

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Alle Autokonzerne setzen auf Russland und hoffen auf glänzende Geschäfte. Renault ist sogar beim Lada-Hersteller Avtovaz eingestiegen - und hat nun viele Probleme.

Michael Kuntz

Der Weg zu Boris Aleshin ist weit. Der Flug geht nach Samara. Das liegt tausend Kilometer südöstlich von Moskau. Der Airbus braucht dafür von Frankfurt aus fünf Stunden. Von der Stadt Togliatti sieht man als erstes die aufgestaute Wolga und moderne Häuser. Das alte Togliatti steht nicht mehr. Es wurde anlässlich des Baus eines Kraftwerkes in der Wolga versenkt. Trotzdem lohnt sich der weite Weg. Hier befindet sich die größte Autofabrik Russlands: Avtovaz, besser bekannt unter ihrer Marke Lada. Es ist fast wie in Wolfsburg - das Werk ist die Stadt, und die Stadt ist das Werk. Von 700.000 Einwohnern arbeiten 107.000 bei Avtovaz.

Boris Aleshin, 53, ist der Chef und er hat allen Grund, darauf stolz zu sein. Noch kurz vor Ausbruch der Finanzkrise nahm er dem Superhirn Carlos Ghosn eine Milliarde Euro ab. Der Chef von Renault-Nissan kaufte dafür 25 Prozent plus eine Aktie von Avtovaz, dem 1966 gegründeten Konzern, der unter anderem immer noch das vier Jahrzehnte alte Fiat-Modell 124 in Lizenz nachbaut.

Notarzt der Automobilindustrie

Der nach seiner spektakulären Sanierung von Nissan in Japan als Volksheld verehrte gebürtige Libanese Ghosn wird seit dem immer wieder als weltweit einsetzbarer Notarzt der Autoindustrie gehandelt. Keine Aufgabe scheint ihm zu schwer. Chrysler retten, GM sanieren, Ford-Chef werden - für alles war er schon im Gespräch.

Dabei ist er derzeit weit davon entfernt, die selbst gesetzten Ziele für die von ihm als Doppelchef geleitete Allianz Renault und Nissan zu erreichen. Nissan verdient nicht so viel wie geplant, und Renault legt längere Pausen ein in seinen Werken in Nordfrankreich. Der neue Mittelklassewagen Megane muss es bringen, denn richtig gut läuft - so wie bei anderen großen Herstellern auch - wenig im französisch-japanischen Autokonzern, der weltweiten Nummer vier nach Toyota, General Motors (GM) und Volkswagen. Super verkaufen sich nur die Sparautos Logan der rumänischen Renault-Tochter Dacia. Der Börsenkurs von Renault kennt nur eine Richtung: abwärts.

Nun darf sich der Auto-Napoleon Carlos Ghosn auch noch mit dem 600 Hektar großen Werk an der Wolga abplagen. Über das scherzte ein Fachjournalist, man sollte es am besten abreißen, wenn bloß die Kosten dafür nicht so verdammt hoch wären. Aus dem postkommunistischen Wolfsburg an der Wolga eine profitable Autofabrik mit international wettbewerbsfähigen Produkten zu machen, diese an sich schon schwierige Mission ist nun durch die Finanzkrise fast unerfüllbar geworden. Für Ghosn könnte das mit der Verbannung enden. Trotzdem setzt er in Russland weiter auf eine ungewöhnliche Strategie: Während die großen Konkurrenten moderne Fabriken auf der grünen Wiese bauen, versucht der Renault-Chef aus alt neu zu machen.

Neben den Hallen mit fünf insgesamt 1,5 Kilometer langen Fertigungsbändern steht ein quadratisches Hochhaus, mittelblau angestrichen, mit dem Firmenlogo "Lada" auf dem Dach. Es zeigt ein Schiff auf der Wolga, steht aber auch für einen Frauennamen, der die Herzen der russischen Autofahrer wärmt. Von weitem wirkt die Szene fast wie das VW-Stammwerk Wolfsburg, wo der Vorstand ebenfalls im Hochhaus über dem Werk thront - am Mittellandkanal statt an der Wolga.

Wenig Lob, wenig Ehr'

Wer in Togliatti die Sicherheitsschleusen wie am Flughafen erfolgreich passiert hat, darf in der Eingangshalle die Devotionalien betrachten. Rechts Lada-Rennwagen und ein BA3-2101 von 1970, das ist der erwähnte Fiat 124. Links das erste Exemplar des modernen Modells Kalina vom 18. November 2004 in weinrotmetallic und jener goldene Lada Kalina, der am 11. Juni 2008 beim russischen Marktführer als fünfundzwanzigmillionstes Auto vom Band fuhr.

Zwischen den Autos stehen Vitrinen voller Pokale für Siege im Motorsport. Autohersteller stellen in ihren Eingangshallen gern Plaketten und Pokale aus, die sie für effizientes Wirtschaften bekommen haben. Solche Trophäen kann Avtovaz nicht vorzeigen - die haben die russischen Autowerker bislang nicht bekommen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Banken mit Krediten für die Händler knausern.

Im 23. Stockwerk in Togliatti öffnet sich dann die zu den Fahrstühlen hin verspiegelte Flügeltür zur Bürolandschaft von Boris Aleshin. Der Ingenieur und Physiker kam nach Stationen in der Raumfahrt-Forschung, der russischen Regierung und der staatlichen Industrieagentur im Jahr 2005 zu Avtovaz. Er steht seit einem Jahr an der Spitze des Unternehmens. Weitere Großaktionäre außer Renault sind mit jeweils 25 Prozent die Staatsfirma Rostekhnologii und die Firmengruppe Troika Dialog. Die Mitarbeiter halten weitere Aktien. Nur acht Prozent der Anteile sind breit gestreut.

Rechts neben dem Sekretariat von Aleshin geht es, begleitet Bodyguards, die an den Box-Weltmeister Wladimir Klitschko erinnern, ins Konferenzzimmer mit rundem Tisch, drei schwarzen Ledersofas und einem Panoramablick auf das weitläufige Werk. Boris Aleshin erscheint mit Entourage. Seine Pressesprecherin Natalia Sidoruk, 26, hatte die voraussichtlichen Fragen vorab notiert. Zwei Dolmetscherinnen übersetzen alles astrein auf Russisch und Englisch. Einer der Aufpasser registriert alles. Aleshin kommt zur Sache.

"Das ist eine Krisensituation heute", räumt der Konzernchef ein, der im taubenblauen Anzug mit Hermes-Krawatte aussieht, wie ein Konzernchef fast überall auf der Welt aussieht. Die Lage für Avtovaz war bisher recht komfortabel. In der Finanzkrise und bei sinkenden Ölpreisen ist sie es nicht mehr. Bisher bezahlten die Händler erst die Autos, und das Werk lieferte 45 Tage später. Nun knausern die Banken mit Krediten für die Händler. Also verhandelt Aleshin mit der Regierung und stellt gleichzeitig das System um: Bald gibt es auch in Russland erst das Auto und dann das Geld.

Nur wenige Autos mehr auf Halde

Einen spürbaren Rückgang der Nachfrage stellt der Avtovaz-Chef bisher nicht fest. Es stehen zwar etwas mehr Autos als sonst auf Halde, doch das sei noch im üblichen Bereich. Da Avtovaz anders als die westlichen Autokonzerne fast alles selber herstellt, müssen auch keine finanziell eingeklemmten Zulieferer mit Rubeln beatmet werden. Die Finanzierung spielt offenbar bei den Käufern nicht so teurer Autos keine so große Rolle. Landesweit wird sie vom Ernst & Young-Manager Emmanuel Quidet mit 50 Prozent angegeben. Aus dem Kreis der deutschen Premiumhersteller ist hingegen zu hören, dass bis zu 85 Prozent aller Verkäufe in Russland mit Krediten oder Leasing gestützt werden. Die Finanzkrise dürfte deshalb das Wachstum des sehr dynamischen russischen Automarktes schwächen. In den vergangenen Jahren wuchs er um die 30 Prozent jährlich. Nun prognostizieren die Pessimisten unter den Experten, dass in Russland nicht wie vorhergesagt in diesem Jahr mehr neue Autos verkauft werden als in Deutschland.

Die Krise erhöht bei Avtovaz möglicherweise sogar die Überlebenschancen für den Nachbau des betagten Fiat 124, der in Togliatti eines von drei parallel laufenden Bändern belegt. Ein Renner seit drei Jahrzehnten, in mehrfach modernisierter Form. "Tatsache ist, dass diese Fiat-Autos sich immer noch sehr gut verkaufen lassen", beantwortet Aleshin die Frage nach dem Abschied von dem fabrikfrischen Oldtimer. Der kostet mit umgerechnet 4000 Euro nur ungefähr die Hälfte vom neuen Kalina - ein echtes Schnäppchen und das nicht nur aus finanziellen Gründen: "Das Auto ist doch inzwischen ein Retrocar", sagt seine Sprecherin und lächelt. Da müssten die Renault-Leute erst den Nachweis antreten, dass ihr Dacia Logan auch in Russland das attraktivere Angebot ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wodurch sich Renault von den Konkurrenten unterscheidet.

Damit das gelingt, hat Renault-Chef Carlos Ghosn einen seiner besten Männer entsandt. Yann Vincent ist neu im Vorstand von Actovaz, vorher war er bei Renault für die Qualität der Autos zuständig. "Wir wollen nicht gleich alle Fabriken renovieren." Sicher gibt es in Togliatti 40 Jahre alte Produktionsanlagen. "Doch die sind sehr gut in Schuss", sagt Vincent. Schließlich hatten die Russen nicht die Möglichkeit, immer neue Maschinen zu kaufen und so sei ihre Fähigkeit sehr ausgeprägt, die vorhandenen pfleglich zu behandeln.

Daneben stehen aber auch schon heute hochmoderne Anlagen wie die Produktion für den modernen Kleinwagen Kalina, die der Böblinger Anlagentechniker Eisenmann 2004 installierte. Man wolle zwar nach und nach die Anlagen erneuern. Doch gehe es nicht unbedingt darum, Menschen durch Maschinen zu ersetzen. "Bei 13 Prozent Lohnanteil ist die Produktivität nicht das erste Thema", stellt Vincent klar.

Ein Kleinlieferwagen auf der Basis des Dacia Logan wird das erste neue Auto von Avtovaz nach dem Einstieg von Renault. Für Lizenzen zahlen die Russen einmalig 400 Millionen Euro. Fast die Hälfte des Geldes für das Aktienpaket fließt also an die Franzosen zurück. Außerdem versuche man auch, in die von den Russen entwickelte Plattform für einen Mittelklassewagen möglichst viele Teile von Renault einzubauen. Den erfolgreichen Geländewagen Lada Niva soll es auch künftig geben. "Die starke Position dieser Ikone wollen wir erhalten", sagt Vincent.

Renault wählt eigenen Weg

Renault beschreitet mit seinem Einstieg bei Avtovaz einen völlig anderen Weg als VW, GM oder auch Peugeot-Citroen. Sie alle bauen in Russland neue Fabriken. Der Vorteil: Sie müssen keine alten Betriebe renovieren und verkrustete Strukturen aufbrechen. Der Nachteil: VW & Co. müssen Belegschaften suchen und ausbilden, die in der Regel vorher nicht in Autowerken gearbeitet haben. Außerdem können sie nicht auf vorhandene Strukturen im Land beim Vertrieb und bei Zulieferern zurückgreifen. Renault dagegen will aus Avtovaz fünf Unternehmen herausoperieren und als selbständige Zulieferer etablieren.

Angesichts der langfristigen Zyklen in der Autoindustrie dauert es einige Jahre bis sich zeigt, welche Strategie die bessere ist - und wer langfristig überlebt auf Russlands Automarkt. Der Druck auf Avtovaz nimmt jedenfalls zu, je größer in Russland die Auswahl wird an modernen und kostengünstig hergestellten Autos. Lada und Renault müssen sich nicht nur den internationalen großen Autoherstellern mit ihren neuen Werken erwehren. Bei der Automesse in Moskau im August stellten so viele chinesische Firmen aus wie nie zuvor. Auch sie haben den russischen Markt entdeckt, wo Lada bisher lange als Synonym für preiswerte Autos galt. Avtovaz-Chef Aleshin nimmt die neue Konkurrenz sehr ernst: "Es kann durchaus sein, dass es in ein paar Jahren in China mehr Autohersteller geben wird als heute in der übrigen Welt zusammen. Und die Chinesen greifen aggressiv an."

© SZ vom 25./26.10.2008/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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