Tarifrecht:Das Gesetz, das ein Irrsinn wäre

Ein Betrieb, ein Tarifvertrag? Endlich ist dieses Prinzip tot - und kein Paragraf wird es wieder zum Leben erwecken.

Thomas Dieterich

Plötzlich herrscht große Aufregung im Tarifrecht. Die Kommentare überschlagen sich. Verbandsvertreter, Politiker, Gewerkschafter, jeder durfte sich in der vergangenen Woche verbal überbieten: ein mittleres Erdbeben, Chaos, Zustände wie in England, vernünftige Interessenvertretung künftig nahezu unmöglich!

Tarifrecht: Ein Betrieb, ein Tarifvertrag? Dieses Postulat hat das Bundesarbeitsgericht jetzt aufgehoben.

Ein Betrieb, ein Tarifvertrag? Dieses Postulat hat das Bundesarbeitsgericht jetzt aufgehoben.

(Foto: dpa)

Was war geschehen? Das Bundesarbeitsgericht will seine eigenwillige Rechtsprechung aufgeben, dass es keine voneinander abweichenden Tarifverträge in den Betrieben geben dürfe. Wenn ein Arbeitgeber oder dessen Verband mit zwei verschiedenen Gewerkschaften einen Tarifvertrag abschließe, könne nur einer von beiden maßgebend sein. Dieses Postulat war vor vielen Jahren von dem Gericht frei erfunden, aber nie konsequent exekutiert worden, weil seine Ergebnisse unsinnig und mit der Verfassung auch unvereinbar gewesen wären.

Als jetzt in einem konkreten Fall der Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht unvermeidbar schien, hat sich das Gericht besonnen und den Traum einer staatlich verordneten Tarifeinheit begraben. Das war zu erwarten.

Nun wird nach dem Gesetzgeber gerufen. Der soll die vermeintliche Gesetzeslücke schließen und die verlorene Tarifeinheit gesetzlich anordnen, allerdings in geänderter Form. Wo die Rechtsprechung bei kollidierenden Tarifverträgen nur den jeweils spezielleren gelten lassen wollte, soll künftig derjenige maßgebend sein, der durch eine stärkere Basis an Mitgliedern gestützt wird.

Klare Fronten und geordnete Abläufe

Die kleinere Gewerkschaft, deren Tarifvertrag nicht zur Geltung kommt, soll dann nicht einmal mit Forderungen und Pressionen Unruhe stiften dürfen, sondern stillhalten müssen, solange die stärkere Konkurrenzgewerkschaft an die aus ihrem Tarifvertrag resultierende Friedenspflicht gebunden und daher kampfunfähig ist.

Eine solche Regel mag zwar für DGB-Gewerkschaften etwas vorteilhafter als für kleine Berufsgewerkschaften sein, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Kritik aus verfassungsrechtlicher Sicht. Auch in dieser Variante wird einer legalen und tariffähigen Gewerkschaft ihr Verhandlungsergebnis aus der Hand geschlagen, ihre Mitglieder werden tarifrechtlich schutzlos gestellt. Wo bleibt die Vereinigungsfreiheit, die zu den Grundrechten gehört?

Kein Problem, meinen die Initiatoren der Gesetzesinitiative. Es gehe doch nur um die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, des Prinzips, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer autonom Arbeitsbedingungen und Bezahlung aushandeln. Dies nämlich sei auf klare Fronten und geordnete Abläufe angewiesen. Schon bei ganz normalen Tarifverhandlungen störten abweichende Konzepte einer Konkurrenzgewerkschaft. Vor allem aber müsse gewährleistet sein, dass ein Tarifvertrag Arbeitskämpfe aller Art für die Dauer der Laufzeit ausschließe.

Der Lokführerstreik und der Streik der Klinikärzte hätten das bewiesen. Da aber die Tarifautonomie vom Grundgesetz gewährleistet werde, könne eine Regelung, die nur deren Funktionsfähigkeit diene, keine Verletzung der Vereinigungsfreiheit sein. Mit anderen Worten: Die Vereinigungsfreiheit ist nur geschützt, soweit sie die Tarifautonomie nicht stört.

Verrutschte Proportionen

Da sind aber die Proportionen gründlich verrutscht. Die Rangfolge der Verfassungsgebote wird glatt auf den Kopf gestellt. Die Tarifautonomie wird im Grundgesetz gar nicht erwähnt. Sie gilt nur als unverzichtbares Instrument eines Freiheitsrechts. Jedermann soll laut Artikel 9 frei sein, Vereinigungen, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gestalten wollen, zu bilden, ihnen beizutreten oder auch fernzubleiben. Solche Koalitionen haben allerdings nur dann Sinn und Erfolg, wenn sie zwingende Verträge schließen können. Den erforderlichen Grundrechtsschutz genießen Tarifverträge aber nur als Mittel, nicht als Inhalt des Freiheitsrechts.

SCHEIDENDER BAG-PRÄSIDENT THOMAS DIETERICH

Thomas Dieterich, 76, war bis 1999 Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Er ist Vorsitzender des DGB-Schiedsgerichts.

(Foto: ag.dpa)

Sie sind zwar verfassungsrechtlich gewährleistet, aber nur soweit sie dem eigentlichen Freiheitsziel wirksam dienen. Zur Freiheit gehört auch Konkurrenz. Der Staat erhofft sich zwar Entlastung in seiner sozialpolitischen Verantwortung, er kann und darf aber keine bestimmten Lösungen vorschreiben oder seine Bürgerinnen und Bürger zum Jagen tragen. (Dadurch können allerdings Schutzlücken entstehen. Hier muss dann der Gesetzgeber selbst eingreifen und die sozialpolitische Verantwortung übernehmen, zum Beispiel Mindestlöhne schaffen.)

Tatsächlich hat die Steuerungskraft der Tarifautonomie beängstigend abgenommen. Die Gründe dafür liegen aber in Tiefenschichten, in die weder Gesetze noch Urteile hinab reichen. Solidarität gilt nicht mehr als zeitgemäß, kollektive Lösungen als vorgestrig. Deshalb leiden Gewerkschaften ebenso wie Arbeitgeberverbände unter permanentem Mitgliederschwund. Sie reagieren darauf aber ganz unterschiedlich.

Entsolidarisierung der Mitglieder

Die Arbeitgeberverbände passen sich der Entsolidarisierung ihrer Mitglieder weitgehend an, bedienen sogar deren Partikularinteressen: So bieten sie ihnen Mitgliedschaften ohne Tarifbindung an. Außerdem fördern sie rein betriebsbezogene Lösungen, die die Flächentarifverträge aushöhlen (Firmentarifverträge, "Bündnisse für Arbeit"). Solche Lösungen sind zwar ebenfalls durch die Vereinigungsfreiheit gedeckt, aber für die Funktion der Tarifautonomie sind sie schädlich.

Im Gegensatz dazu stemmen sich die DGB-Gewerkschaften den Zersplitterungstendenzen mit beachtlichem Aufwand entgegen. Alle Mitgliedsgewerkschaften haben in ihren Satzungen das Prinzip verankert, dass nur jeweils eine von ihnen in einem Betrieb für Tarife zuständig sein darf. Konkurrenzkämpfe zwischen DGB-Gewerkschaften sollen damit ausgeschlossen werden. Damit das in der Praxis funktioniert, sieht die DGB-Satzung Abstimmungsverfahren und ein internes Schiedsgericht vor. Das soll bei Abgrenzungskonflikten entscheiden.

Dieses Modell unterscheidet sich fundamental von der neuen Gesetzesinitiative - weil es auf Freiwilligkeit und Transparenz beruht. Auch dieses System steht allerdings mehr und mehr unter Druck, weil sich Branchen verschieben, Unternehmen verändern und tarifpolitische Ziele natürlich selbst innerhalb des DGB umstritten sind. Aber die Statik des Systems hält.

Da es die Vereinigungsfreiheit nicht berührt, wird es auch vom Bundesarbeitsgericht anerkannt. Die Arbeitsgerichte richten sich nach den Entscheidungen des Schiedsgerichts und werden dadurch erheblich entlastet. Vielleicht hat das Bundesarbeitsgericht deshalb so lange an ein wirksames Prinzip der Tarifeinheit glauben können.

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