Augsteins Welt:Arme Statistik

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Die Armut nehme weltweit ab, konnte man zuletzt immer wieder lesen. Ist der Wunsch hier der Vater der Feststellung? Wie es zu den Statistiken kam, ist ziemlich rätselhaft.

Kolumne von Franziska Augstein

"Die Wahrheit ist konkret. Ich atme Steine", hat der kapitalismuskritische Dramatiker Heiner Müller geschrieben. Müller ist 1995 gestorben. Er konnte beides sein, ein Zyniker von großen Gnaden und im Detail, also von Angesicht zu Angesicht, ein einnehmend netter Mann. Er war, mit einem Wort, ein Realist.

Dass man Steine, ja Rohstoffe vielfältiger Art, tatsächlich einatmen kann, erleben die Bergbauarbeiter in Schwellenländern. Gelegentlich werden in den Medien Fotos gezeigt von Tagebauwerken in Afrika und Lateinamerika. Die Zustände sind unsäglich. Viele der Arbeiter schuften auf einen frühen Tod hin. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Bildern und Fotos aus den Steinbrüchen von Zwangsarbeitslagern besteht in der Abwesenheit von Wächtern mit Gewehren. Der Kapitalismus hatte spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert den Nebeneffekt, dass Menschen sich bei der Arbeit zu Tode bringen, dem Anschein nach freiwillig.

In den vergangenen Monaten wurde in den Medien immer mal wieder gemeldet, dass die absolute Armut auf der Welt statistisch enorm gesunken sei. Das geht auf Studien der Weltbank und einzelner Forschungsinstitute zurück. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) stellte fest: Seit Anfang der 90er-Jahre habe die Zahl der Hungernden von 1011 Millionen auf 795 Millionen abgenommen.*

Manche Politikwissenschaftler fragen sich, auf welchen Erkenntnissen diese Zahlen basieren. Der Kölner Professor Christoph Butterwegge befasst sich seit vielen Jahren mit Armut und Ungleichheit. Er ist von den Gewissheiten der fraglichen Institutionen und Institute überrascht: "Wie die zu ihren Ergebnissen kommen, erschließt sich mir nicht."

Dahinter stehe wohl "ein bisschen Kaffeesatzleserei". Möglicherweise sei der Wunsch Vater des Gedankens: Weil die Vereinten Nationen beschlossen haben, Hunger und Armut auf der Welt bis zum Jahr 2030 zu besiegen, habe man vielleicht 2015 ein gutes Zwischen-ergebnis präsentieren wollen. Angesichts etlicher anhaltender Bürgerkriege, angesichts von mehr als 65 Millionen Flüchtlingen weltweit wüsste Butterwegge gern, wie die erfreulichen Daten zustande kamen. Das Erstarken der Mittelschichten in China und Indien könne das jedenfalls schwerlich erklären.

Franziska Augstein schreibt jeden zweiten Freitag eine Kolumne im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung, im Wechsel mit Nikolaus Piper. (Foto: N/A)

Die Schwelle zur absoluten Armut ist derzeit auf einen durchschnittlichen Verdienst von 1,90 Dollar pro Tag festgelegt, und zwar kaufkraftbereinigt. Butterwegge wundert sich: Da müsste in jedem Land und jeder Region eruiert werden, wie viel man dort für 1,90 Dollar bekommen kann. Dass das tatsächlich gemacht wird, hält der Wissenschaftler für "nahezu unvorstellbar".

Afrikanische Länder werden bekanntlich ausgebeutet, zugunsten der Mächtigen und auf Kosten der Einwohner. In Lateinamerika sieht es kaum besser aus: Dawid Danilo Bartelt, der lange für die mit dem Naturschutz sympathisierende Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien tätig war, hat in einem kurzen, luziden Buch den Konnex zwischen Umweltzerstörung und Armut erklärt ("Konflikt Natur. Ressourcenausbeutung in Lateinamerika", Wagenbach-Verlag, 2017). Das Stichwort ist "Extraktivismus". Das Wort ist relativ neu. Es bezeichnet Volkswirtschaften, die wenig eigene Industrie entwickeln, sich auf die Ausbeutung ihrer Rohstoffe verlassen, und ob von dem Erlös etwas bei der Bevölkerung ankommt, obliegt den Herrschenden. 2009 wurden neun Länder in Lateinamerika von linken Präsidenten geführt, die den Armen Hilfe versprachen.

"Bring dein krankes Kind doch ins Stadion": So spotteten die Bewohner von Rio de Janeiro

In Venezuela war das Ergebnis fürchterlich: Zwar hat der verstorbene Chavez viele Leute aus der absoluten Armut gebracht. Aber weil das Einkommen aus der Ölgewinnung nicht sinnvoll investiert wurde, steht das Land heute vor dem Kollaps. In Brasilien haben die Präsidenten Lula da Silva und Rousseff so wenig getan für das Gesundheitssystem und Erziehung, dass ein Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft in Rio Slogans zu sehen waren: "Bring dein krankes Kind doch ins Stadion" und "Wir wollen Schulen nach FIFA-Standard". In Bolivien und Ecuador lief es mit den linken Präsidenten besser. Das Problem bei allen: Sie können ihre wirtschaftlichen Strukturen nicht ändern. Sie sagen, die Einnahmen aus dem Verkauf der Rohstoffe zu benötigen, um den Armen zu helfen. Im Zuge dieser Hilfe erlauben sie gern ausländischen Konzernen, die Natur in industriellem Ausmaß zu zerstören und damit die Lebensgrundlage von Fischern und Kleinbauern. Das ist Extraktivismus. Dawid Danilo Bartelt nennt das auch "die Lehre vom großen Ausräumen".

Leider gibt es dafür nebenbei ein anderes Wort: Kapitalismus. Wo der Kapitalismus Wohlstand bringt, nimmt er anderen, was sie haben. Wenn der Wald am Amazonas, die grüne Lunge der Welt, weiterhin abgeholzt wird, dann werden bald alle, figurativ gesprochen und um auf Heiner Müller zurückzukommen, Steine atmen müssen. Dieses Dilemma hat Müller auf den Punkt gebracht. In dem feinen Band ",Für alle reicht es nicht'. Texte zum Kapitalismus" (klug ediert, 2017 bei der Edition Suhrkamp erschienen) ist eine Parabel von ihm zu lesen: "Zwei Knaben hatten jeder einen Vogel in der Hand. Die Vögel sollten singen, sagten sie. Da machte der eine die Hand mit dem Vogel darin zur Faust. Aber der Vogel sang nicht, schrie nur, und auch das nicht lange. Der andere machte die Hand auf und ließ den Vogel fortfliegen. Dein Vogel ist dir fortgeflogen, sagte der erste. Er singt, erwiderte der andere."

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es: "Fraglich ist, auf welchen Erkenntnissen diese Zahlen basieren. Das Bruttoinlandsprodukt und kumulierte Einkünfte geben dazu keine Auskunft. Es braucht nur ein paar Multimillionäre mehr in einem bitterarmen Land, und schon steht die gesamte Bevölkerung, statistisch gesehen, besser da." Wir haben diese Sätze gestrichen.

© SZ vom 04.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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