Aufstand der Ökonomen:Breitseite gegen Merkel

In einem offenen Brief attackieren 170 namhafte deutsche Wissenschaftler und Ökonomen die Euro-Politik von Kanzlerin Merkel. Bislang verhallten derartige Proteste meist ungehört, zu kompliziert, zu alarmistisch, zu politikfern sind sie formuliert. Doch dieser Aufruf hat das Potenzial zum Big Bang. Die Kanzlerin reagiert prompt.

Marc Beise

Öffentliche Briefe von Wissenschaftlern begleiten den Euro seit seiner Geburt. Und fast immer sind sie kritisch intoniert: "Haltet inne", rufen die Experten den Politikern zu. "Ihr führt uns ins Verderben." Meist verhallten die Proteste ungehört, zu kompliziert, zu alarmistisch, zu politikfern sind sie formuliert. Doch der jüngste Aufruf hat das Potenzial zum Big Bang.

Libanesischer Ministerpräsident zu Besuch

Angela Merkel steht wegen ihrer Euro-Politik in der Kritik: 170 Ökonomen wandten sich in einem offenen Brief gegen die jüngsten Beschlüsse.

(Foto: dpa)

Kurz nach dem EU-Gipfel und vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den geplanten Rettungsfonds ESM wenden sich 170 angesehene deutschsprachige Wissenschaftler direkt an die "lieben Mitbürger". Das Ziel: Sie sollen ihre Sorgen den jeweiligen Wahlkreis-Abgeordneten vortragen: "Unsere Volksvertreter sollen wissen, welche Gefahren unserer Wirtschaft drohen."

Auslöser der Aktion war das Treffen der Staats- und Regierungschefs am vergangenen Freitag. "Die Entscheidungen, zu denen sich die Kanzlerin auf dem Gipfeltreffen der EU-Länder gezwungen sah, waren falsch", sagen die Wissenschaftler, und sie meinen die geplanten weiteren Hilfen für strauchelnde Banken in der Euro-Zone. "Wir sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Euro-Systems bedeutet, mit großer Sorge."

Wie berichtet, planen die Euro-Regierungen, dass der neue dauerhafte Krisenfonds ESM - und damit der Steuerzahler - künftig Banken direkt unterstützen kann. Voraussetzung dafür ist allerdings eine europäische Bankenaufsicht. Am Ende könnte auch eine gemeinsame Einlagensicherung stehen. Die Ökonomen treibt die Sorge um, Deutschland könne sich bei diesen Hilfsbeschlüssen überheben. Die Bankschulden seien heute fast dreimal so groß wie die Staatsschulden: "Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden."

Deutschland und die soliden Länder würden gedrängt, ihre Haftungssummen immer weiter auszudehnen: "Streit und Zwietracht mit den Nachbarn sind dann vorprogrammiert. Weder der Euro noch der europäische Gedanke als solcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet.

Die Bundeskanzlerin nahm den Aufruf der Wissenschaftler so wichtig, dass sie unmittelbar reagierte. Sie sei beim EU-Gipfel "keinerlei Verpflichtungen eingegangen, die über das hinausgehen, was wir vertraglich bisher vereinbart haben", betonte Merkel am Donnerstag in Berlin. Jeder solle sich das Ergebnis des Gipfels genau anschauen und das berichten, was in den Beschlüssen stehe.

Vor allem gehe es um eine bessere, unabhängige Bankenaufsicht, die dringend notwendig sei. Merkel: "Es geht hier überhaupt nicht um irgendwelche zusätzlichen Haftungen. Die Haftungen für Banken sind genauso verboten nach den jetzigen Regelungen, wie es die Haftungen für Staaten sind." Daran habe sich durch die Brüsseler Beschlüsse nichts geändert.

Die Ökonomen überzeugt das nicht, sie werfen den Politikern indirekt Naivität vor: "Die Politiker mögen hoffen, die Haftungssummen begrenzen und den Missbrauch durch eine gemeinsame Bankenaufsicht verhindern zu können. Das wird ihnen aber kaum gelingen, solange die Schuldnerländer über die strukturelle Mehrheit im Euro-Raum verfügen." Wenn die soliden Länder der Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden erst einmal grundsätzlich zustimmten, würden sie immer wieder großem Druck ausgesetzt, die Haftungssummen zu vergrößern oder die Voraussetzungen für den Haftungsfall aufzuweichen.

"Banken müssen scheitern dürfen"

Mit den jüngsten Beschlüssen werde nicht der Euro gerettet. Vielmehr würden sie den Gläubigern der Krisenbanken helfen, schreiben die Ökonomen. Es profitierten vor allem Investoren an Finanzplätzen wie der Wall Street oder der Londoner City sowie marode Banken. Das aber sei der falsche Weg: "Banken müssen scheitern dürfen." Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen könnten, müssten die Gläubiger die Lasten tragen, schließlich seien sie das Investitionsrisiko bewusst eingegangen.

Dieses Argument trug zuletzt vor allem der Münchner Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, vor. Viele Politiker halten Sinn für einen Einzelkämpfer, die neue Aktion verleiht seiner Sache mehr Gewicht. Initiator der Aktion ist der Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer, immer mehr Fachkollegen schlossen sich an. Darunter Werner Abelshauser, Charles Blankart, Juergen Donges, Stefan Homburg, Bernd Raffelhüschen, Robert von Weizsäcker und Klaus Zimmermann.

Auch der ehemalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) hat unterschrieben und Kai Konrad, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Es fehlen allerdings auch bekannte Vertreter des Faches, denen der Aufruf zu alarmistisch war.

Nicht dabei ist auch Konrads Vorgänger Clemens Fuest, Oxford-Professor und bald Präsident des ZEW, eines der großen deutschen Forschungsinstitute. Fuest begleitet die Vertreter der Bundesregierung am kommenden Dienstag zu der ESM-Verhandlung in Karlsruhe.

Krämer legte am Donnerstag nach. "Viele wissen gar nicht, auf was wir uns da einlassen", sagte Krämer der Nachrichtenagentur dapd. "In zehn oder 15 Jahren müssen wir dann unser Rentensystem plündern, um irgendwelche maroden Banken zu retten." Er warnte davor, wieder die Notenpresse anzuwerfen, um die Schulden zu begleichen. "Das hatten wir 1923 schon einmal", sagte er.

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