Auflage eingestampft:Vorauseilende Zensur

Wie ein medizinischer Fachverlag dem Druck der Pharmaindustrie nachgab und eine kritische Artikelserie stoppte.

Werner Bartens

Wer die Augustausgabe der Zeitschrift für Allgemeinmedizin (ZFA) aufmerksam liest, wird irritiert sei. Im Inhaltsverzeichnis ist ein Artikel von Michael Kochen und Wilhelm Niebling auf Seite 332 angekündigt.

Auflage eingestampft: Novartis-Manager Matthias Meergans unterstellte den Autoren mangelhafte Recherche bei Ihrem Artikel über Sartane.

Novartis-Manager Matthias Meergans unterstellte den Autoren mangelhafte Recherche bei Ihrem Artikel über Sartane.

(Foto: Foto: AP)

Die Professoren für Allgemeinmedizin aus Göttingen und Freiburg skizzieren demnach "Wirksamkeitsunterschiede bei Protonenpumpenhemmern: Informationen zur rationalen Arzneitherapie in der ärztlichen Praxis" - ein Überblick für Hausärzte, wie sie sinnvoll Medikamente verordnen, die bei Magengeschwüren und Sodbrennen helfen.

Die Ausgabe erschien mit mehreren Wochen Verspätung

Auf Seite 332 im Heft findet sich jedoch kein Text über Magenmittel. Stattdessen steht dort Werbung für ein Buch des Thieme-Verlags, der die ZFA neben anderen Fachmagazinen herausgibt. Verwunderlich ist auch, dass die Augustausgabe der ZFA erst am 10. September bei Abonnenten angekommen ist. Normalerweise wäre sie Mitte August erschienen.

Ferdinand Gerlach, Leiter der Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt, hakte nach - wie andere Leser auch -, warum der Artikel fehle, auf den er "schon ganz gespannt gewesen" wäre. Das Heft enthalte den Beitrag über Magenmittel nicht, beschied ihm Volker Niem, Programmplaner bei Thieme. Die Ankündigung sei "ein bedauerlicher Fehler".

Redaktioneller Irrtum

Hinter dem bedauerlichen Fehler verbirgt sich allerdings mehr als ein redaktioneller Irrtum. "Das ist ein einmaliger Vorgang", sagt Michael Kochen, Erstautor des vermissten Textes und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).

"Der Thieme-Verlag hat auf Druck der Industrie die Augustauflage eingestampft. Der Verlag befürchtete wohl, sein Anzeigengeschäft zu gefährden." Man sei viel von der Pharmaindustrie gewohnt und kenne ihren Einfluss auf Fachmagazine, so Kochen, "aber das ist vorauseilende Zensur des Verlages".

Die Arzneimittelkommission versucht, sich dem Druck zu entziehen

Kochen ist Mitherausgeber des anzeigenfreien und pharmakritischen Arzneitelegramms. Niebling ist Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, die sich - anders als viele medizinischen Fachgesellschaften - dem Druck der Industrie weitgehend entzieht.

Die "Informationen zur rationalen Arzneitherapie in der ärztlichen Praxis" von Kochen und Niebling waren als mehrteilige Serie angelegt, die vermitteln sollte, wie Patienten optimal und kostengünstig behandelt werden. Im Juli war der erste Beitrag über Bluthochdruck-Therapie erschienen. Für August waren die Magenmittel geplant. Weitere Beiträge über typische Hausarzt-Themen sollten folgen.

Vorauseilende Zensur

Um zahlreiche Mediziner zu erreichen, war eine gleichzeitige Publikation in der ZFA und in Der Hausarzt vorgesehen. Die ZFA erscheint im Stuttgarter Thieme-Verlag in 2500 Exemplaren und kommt ohne Anzeigen aus, weil die DEGAM dem Verlag eine hohe fünfstellige Summe zahlt, damit ihren Mitgliedern die Zeitschrift zugestellt wird.

Der Hausarzt wird vom Münchner Verlag Med Komm herausgegeben, der zum wissenschaftlichen Springer-Verlag gehört. Der Hausarzt hat eine Auflage von etwa 45 000 Heften und ist bestückt mit Anzeigen der Pharmabranche.

Viel PR-Aufwand für teure Sartane

Im Juli-Text über Blutdrucksenker bewerteten die Autoren besonders die Sartane. Diese neue, teure Gruppe von Medikamenten wurde von der Pharmaindustrie mit viel PR-Aufwand in den Markt gedrückt. Immer wieder behaupteten die Hersteller, diese Mittel seien besser als herkömmliche Produkte.

Kochen und Niebling verglichen sie mit ACE-Hemmern, die preiswerter sind. Ihr Fazit: Sartane sind älteren Mitteln zur Therapie von Hochdruck "nicht überlegen". Die Medikamente "können nur dann empfohlen werden, wenn ACE-Hemmer nicht vertragen werden", was bei acht Prozent der Patienten der Fall sei. Von diesen Ausnahmen abgesehen, so die Autoren, "erscheint die primäre Verordnung eines Sartans wegen der unzureichenden wissenschaftlichen Datenlage und der höheren Kosten nicht gerechtfertigt".

Einige Pharmafirmen reagierten umgehend

Mitte Juli wurde der Artikel in beiden Blättern veröffentlicht. Einige Pharmafirmen reagierten umgehend. Am 19. Juli schrieb Christiane Funken, Leiterin Medico-Marketing bei Takeda Pharma in Aachen an Thieme; das Schreiben wurde an Kochen weitergeleitet.

Takeda stellt Sartane her, die im Beitrag nicht so gut wegkommen. "Generell ist anzumerken, dass der Artikel nicht die Anforderungen an eine objektive wissenschaftliche Publikation erfüllt", monierte Funken, zudem seien "relevante Leitlinien und Empfehlungen nicht dargestellt".

Fehler im Beitrag

Auch bei Novartis in Nürnberg - das Unternehmen stellt ebenfalls Sartane her - blieb man nicht untätig. Matthias Meergans, Medical Marketing Manager, kritisierte, dass der Artikel nicht "auf Basis einer gewissenhaften Recherche" erstellt sei. Kochen und Niebling waren in der Tat Fehler in ihrem Beitrag unterlaufen, die aber nichts an ihrer Gesamtbewertung der Medikamente ändern.

Was dann passierte, ist - freundlich ausgedrückt - eine Abwägung von verlegerischen Interessen. Michael Kochen spricht von Zensur durch den Thieme-Verlag, der in einer Art vorauseilendem Gehorsam dem Druck der Pharmaindustrie ausgewichen sei. Auch beim Hausarzt muss Unbehagen zu spüren gewesen sein. Denn plötzlich wurden dort Gutachter befragt, was sonst bei der Zeitschrift nicht üblich ist.

Vorauseilende Zensur

Anspruchsvolle Journale lassen mehrere Experten die Qualität von Publikationen bewerten. Dies gilt jedoch nicht für Übersichtsarbeiten. Der Hausarzt verfügt über gar kein Gutachtersystem.

Die Verlage kamen in Verlegenheit, weil die Industrie offenbar die Muskeln spielen ließ. Die ZFA selbst enthält zwar keine Werbung, "doch Takeda zog drei Anzeigen in anderen Thieme-Zeitschriften im Wert von 9600 Euro zurück", sagt Wilhelm Niebling.

Takeda zog Anzeigen zurück

Die Takeda-Werbung bei Thieme umfasse 37 Anzeigen im Wert von 82 000 Euro im Jahr 2006, hatte Niebling in Erfahrung gebracht, nachdem er der Pharmafirma vorhielt, durch Entzug der Anzeigen Verlag und Hausärzte unter Druck zu setzen. Dass Thieme die Auflage einstampfe, sei für ihn undenkbar gewesen, sagt Niebling, "der Verlag muss massive Ängste haben".

Matthias Meergans von Novartis sagt, er hätte "gern eine Klarstellung der Fehler durch die Autoren" gehabt. "Wir sind Gegner in der Pharmalandschaft, weil die beiden Herren hochpreisige Mittel nicht so günstig bewerten." Dabei gebe es wissenschaftlich belegte Vorteile der Sartane.

"Nicht unser Stil"

Der Verlag müsse seine Ressourcen zwar überprüfen, so Meergans, doch "Anzeigen zu entziehen, wäre nicht unser Stil". Christiane Funken von Takeda weist es ebenfalls von sich, Zeitschriften unter Druck zu setzen: "Wir machen Anzeigen-Pläne unabhängig von der kritischen Auseinandersetzung mit unseren Produkten - das sind wir gewohnt."

"Publikationen, die den Umsatz gefährden, sind von der Pharmaindustrie unerwünscht", sagt Allgemeinmediziner Ferdinand Gerlach. "Es ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn Zeitschriften, die abhängig von Anzeigen sind, den Druck der Industrie spüren. Diese komplette Abhängigkeit ist ein Systemfehler."

Anzeige gegen Artikel

Das Motto sei Anzeige gegen Artikel - in der Branche PR gegen Media genannt - sagt eine Ärztin, die bis vor kurzem für eine PR-Agentur tätig war: "Man bietet an, eine Anzeige zu schalten, wenn dieser oder jener pharmafreundliche Beitrag redaktionell berücksichtigt wird."

Kochen und Niebling setzten in ihrem Beitrag um, was sie in der Einleitung zur Serie angekündigt hatten: "Rationale Pharmakotherapie umfasst die Reflexion der eigenen Verordnungen mit Nutzung eines überschaubaren Arzneimittelrepertoires, den kritischen Umgang mit Aussagen pharmazeutischer Unternehmen, sowie die regelmäßige Lektüre unabhängiger Informationen."

Vorauseilende Zensur

"Bei der Anwendung dieser Grundsätze sollte man möglichst keine Präparate verordnen, deren Wirksamkeit nicht ausreichend nachgewiesen ist. Wann immer möglich, sollten erprobte, nebenwirkungsarme Medikamente zum Einsatz kommen."

Diese Sätze stehen im Widerspruch zu Usancen der Pharmaindustrie, die mit überzogenen Darstellungen Produkte anpreist und mitunter nachgeahmte Präparate als teure Neuerungen verkauft. Diese Sätze sind aber auch eine Mahnung an ärztliche Kollegen, nicht auf Scheininnovationen hereinzufallen und sich nicht vom Heer der etwa 18 000 Pharmareferenten beeinflussen zu lassen.

Unterschiede zu herkömmlichen Mitteln nur im Preis

Auch in dem für die Augustausgabe geplanten Text über die Magenmittel hatten Kochen und Niebling geschrieben, dass "trotz entsprechender Werbeaussagen zweifelsfreie Nachweise für klinisch relevante Unterschiede zwischen den einzelnen Mitteln fehlen". Unterschiede im Preis gibt es allerdings: Die Behandlung pro Tag und Patient kostet je nach Präparat zwischen 77 Cent und 2,11 Euro.

Irgendwann Ende Juli oder Anfang August muss bei Thieme die Entscheidung gefallen sein, diesen Text nicht erscheinen zu lassen. Wir werfen die Auflage in den Papierkorb, habe ein Thieme-Mitarbeiter zu Kochen gesagt. Der Vorgang wäre für Leser kaum zu erkennen gewesen, wenn der Fehler im Inhaltsverzeichnis nicht passiert wäre.

Kritiker gesucht

Zwar habe auch der Hausarzt-Verlag Med Komm "unbedingt jemand gesucht, der unsere Artikel kritisiert", sagt Kochen. Entgegen sonstiger Gepflogenheiten wurden Stellungnahmen eingeholt. Die bestellten Kritiker konnten aber keine gravierenden wissenschaftlichen Fehler entdecken, sondern stimmten dem Fazit von Kochen und Niebling zu. Ein Eiertanz für manche Gutachter, weil sie abhängig von den Verlagen sind.

Ursprünglich war geplant, die Reaktionen sowohl im Hausarzt (unter dem Titel "Ethik oder Monetik - Arzneitherapie zwischen Innovation und Wirtschaftlichkeit") als auch in der ZFA zeitnah abzudrucken. Kochen und Niebling begrüßten dies, denn die vermeintliche Kritik fiel glimpflich aus oder entlarvte sich selbst.

Novartis zog die anfängliche Zusage zurück

Druckfahnen gibt es bereits, auch die Pharmafirmen waren einverstanden. Ein eifriger Mitarbeiter des Thieme-Verlags hakte jedoch dreimal bei Novartis nach, ob man dort wirklich den Abdruck unterstütze. Nach anfänglicher Zustimmung wurde der Pillenhersteller offenbar ob der wiederholten Nachfrage unsicher und zog die Zusage für die ZFA zurück.

Der Verlag Med Komm fühlte sich zwar auch unter Druck und setzte die eigenartige Begutachtung der Texte in Gang, doch im Hausarzt wird bald ein "Leserforum" erscheinen, das die Kritik und eine Stellungnahme der Autoren bringt. Dann werden die Hausärzte Gelegenheit haben, die Vorfälle zu diskutieren.

Mitte der Woche beginnen in Potsdam der Deutsche Hausärztetag und der Jahreskongress der Allgemeinmediziner. Eine Veranstaltung erscheint besonders interessant. Sie heißt "Basiswissen für die Bewertung von Pharma-Studien: Hilfe oder Falle?"

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