Athener Börse:"Das ist eine stille Tragödie"

An employee looks on at electronic board displaying stock prices at the entrance of the Athens Stock Exchange

Banger Blick: Am ersten Handelstag seit Wochen verliert der Leitindex in Athen mehr als 22 Prozent. Die Aktien der Banken brachen um bis zu 30 Prozent ein.

(Foto: Yiannis Kourtoglou/Reuters)

Nikos Chryssochoidis ist trotz des Athener Kurssturzes gefasst. Seine Familie handelt seit Generationen Aktien. Sie ist Schlimmeres gewöhnt.

Von Mike Szymanski, Athen

In seiner Familie hat jeder schon einmal einen solchen düsteren Tag erlebt. Warum sollte es Nikos Chryssochoidis da besser gehen? Er ist Aktienhändler, in dritter Generation. Im Flur seines Broker-Büros in der Athener Innenstadt hängt ein großes Foto: Es zeigt seinen Großvater und seinen Vater, wie sie Seite an Seite in der alten Athener Börse noch mit Zettel und Stift in der Hand mit Aktien handeln.

Der Großvater erlebte den großen Crash von 1929, in dessen Folge die Athener Börse 15 Monate geschlossen blieb. Sein Vater war beim großen Börsencrash von 1987 dabei. Jetzt weiß auch Nikos Chryssochoidis, wie sich das anfüllt, wenn sich Werte in Augenblicken in Nichts auflösen: Am Montag hat die Börse in Athen nach fünf Wochen Zwangsschließung wieder geöffnet - und die Kurse brachen prompt ein.

Athener Börse: SZ-Grafik; Quelle: Bloomberg

SZ-Grafik; Quelle: Bloomberg

Der wichtigste griechische Aktienindex verlor im Laufe des Handelstages bis zu 22,9 Prozent, erholte sich aber später ein wenig. Die Aktien der maroden Banken stürzten um bis zu 30 Prozent ab. Mehr geht nicht an einem Handelstag. Das sind die Regeln. Der Absturz muss also noch nicht vorbei sein. Chryssochoidis sagt: "Das ist eine stille Tragödie." Eine stille Tragödie? "Ja", sagt er, bis auf ein paar Privatanleger sei niemand in Panik verfallen. Wer das Geschäft kennt, konnte ahnen, was passieren wird. "Bei uns im Büro stand heute niemand fassungslos und mit offenem Mund da."

Man möge ihn bitte nicht falsch verstehen. "Es ist ein trauriger Tag für Griechenland", sagt der 41-Jährige. "Aber eben auch kein schwarzer Montag." Wenn man Positives in diesem Tag sehen wolle, dann doch bitte dieses: Die Börse hat wieder geöffnet.

Es herrscht eine merkwürdige Stimmung

Ein Stück Normalität im Wirtschaftsleben des Landes ist am Montag mit Donnerhall nach Griechenland zurückgekehrt. Die Eröffnung der Börse bedeutet aber nicht, dass Wertpapiere wieder nach Belieben gehandelt werden können. Heimische Anleger dürfen wie alle Griechen höchstens 60 Euro am Tag von ihren Konten abheben. Nur mit diesem Geld dürfen sie Aktien kaufen, es sei denn, sie haben noch Bares zuhause oder im Ausland geparkt. Ausländer sind von diesen Einschränkungen nicht betroffen.

Aktuelles Lexikon: Austerität

Wenn eine Regierung Ausgaben gekürzt hat, nannte man das in Deutschland bis vor Kurzem einfach "Sparpolitik". Seit diese Sparpolitik in Europa und weltweit zum zentralen Streitpunkt geworden ist, setzt sich immer mehr der Begriff "Austerität" durch. So wie er heute gebraucht wird, ist "Austerität" dem englischen austerity entlehnt. Die Wurzeln des Wortes liegen jedoch ironischerweise in Griechenland. Im Altgriechischen stand austeros für "herb" oder "bitter". Von den Griechen übernahmen die Römer das Wort, es wurde zum lateinischen austerus. Aus dem Lateinischen wurde das französische austère, die austerité und schließlich die englische austerity. Im Französischen kann man einen Menschen als austère bezeichnen - das ist dann jemand, der einen kargen Lebensstil pflegt - oder aber einen Staat, der nicht über seine Verhältnisse lebt. Im Streit um Austerität geht es im Kern immer um diese beiden Positionen: Die Befürworter wollen durch Sparpolitik gesunde Staatsfinanzen erreichen und die Verschuldung begrenzen. Die Gegner sagen: Das Ziel lässt sich durch Sparpolitik nicht erreichen, denn je mehr der Staat spart, desto mehr schränkt er die private Nachfrage ein. Dadurch sinken die Steuereinnahmen und alles wird nur noch schlimmer. In der Praxis sehen Sanierungsprogramme für überschuldete Staaten oft eine Kombination aus Austerität, Strukturreform und Schuldenerlass vor. Nikolaus Piper

Die Athener Börse war zusammen mit den Banken am 29. Juni geschlossen worden, um einen Kollaps des Finanzsystems abzuwenden. Damals war völlig unklar, ob sich die griechische Regierung mit ihren europäischen Kreditgebern einigen und einen Staatsbankrott sowie das Ausscheiden aus dem Euro vermeiden könnte. In diesen fünf Wochen ist viel passiert. Kapitalverkehrskontrollen wurden eingeführt. Die Wirtschaft kam nahezu zum Erliegen. Um Hilfsmilliarden wird gerungen. All dies - so heißt es unter den Aktienhändlern - müssten die Finanzmärkte jetzt erst mal abbilden. Wie das aussieht, kann man am Montag um kurz nach 10.30 Uhr im Vorraum der Athener Börse auf den Bildschirmen studieren: Die Kurven zeigen allesamt nach unten.

Hier herrscht eine merkwürdige Stimmung. Kein wirklicher Schock, aber auch keine richtige Anteilnahme. Chryssochoidis sagt, vor seinem Land liege nun ein weiter Weg. "Wir haben es immer geschafft." Er muss nur daheim fragen. Die nächsten Tage und Wochen dürften an der Börse unruhig bleiben, da ist sich Chryssochoidis sicher. Man wisse ja auch immer noch nicht, wo das Land hinsteuere.

Dieses Gefühl, nicht zu wissen, was passiert

Das neue Hilfspaket für Griechenland wird gerade ausgehandelt, unterschrieben ist noch nichts. Ministerpräsident Alexis Tsipras hat in seiner Regierungspartei Syriza ein großes Lager an Gegnern, die lieber die Drachme zurück hätten als Tsipras bei den Verhandlungen mit Brüssel zu unterstützen. Er steht im Parlament längst ohne eigene Mehrheit da. Gut möglich, dass es zu Neuwahlen im Herbst kommt. Chryssochoidis wünscht sich das nicht, weil dann wieder Arbeit liegen bleibt. Die Börse dürfte also noch eine ganze Zeit lang in ihren Kursen Unsicherheit abbilden.

Dieses Gefühl, nicht zu wissen, was passiert, treibt auch Theodoros Fessas um. Er ist Präsident des griechischen Industrieverbands SEV. Er residiert - nicht anders kann man das nennen - in einem alten Adelshaus mitten in der Athener Innenstadt. Der Anblick wird nur von roten Farbflecken getrübt, eine Farbbeutel-Attacke. "Das ist schon lange nicht mehr vorgekommen", sagt Fessas. Er meint auch solche Attacken, wenn er sagt: "Wir müssen ein normales europäisches Land werden - ohne Extreme." Ein Land, in dem Unternehmer nicht attackiert würden.

Die Wirtschaft liege fast am Boden. Die Kapitalverkehrskontrollen hätten vielen Firmen schwer zugesetzt. "Der Schaden ist groß", sagt er. "Das Jahr 2015 ist mehr oder weniger verloren." Nahezu alle wichtigen Barometer, die den Zustand der griechischen Wirtschaft beschreiben, stehen auf "Krise". "Die Unternehmer warten auf Stabilität", sagt Fessas. "Sie wollen investieren." Sie könnten das auch. Mit dem neuen Sparprogramm, das die EU Griechenland im Gegenzug für weitere Hilfen auferlegen möchte, könne Griechenland leben. Abschaffung von Frühverrentung, Kampf gegen Steuerbetrug - notwendige Reformen nennt Fessas das. Was davon tatsächlich Politik wird, kann er nicht sagen. Das sei das große Problem in Griechenland.

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