Arm und Reich:Vom Wert der Arbeit

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst immer weiter. Schuld sind Politik und Tarifparteien, die versagt haben - und die Ungerechtigkeiten nicht bekämpfen.

Nina Bovensiepen

Deutschland zerfällt. Eine Kluft wird immer größer, zwei Nachrichten zeigen es. Erstens: Das reichste Viertel der Deutschen kommt für fast 80 Prozent der Einkommensteuer auf. Zweitens: Die Stundenlöhne von Niedrigverdienern sind in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. Beide Meldungen lösen Empörung aus. Und daher kommen Erwin Huber, Andrea Ypsilanti und anderen Wahlkämpfern die Nachrichten vermutlich gerade recht. Die CSU kann umso lauter "mehr Netto für alle" fordern. Die anderen mögen die wachsende Schere beklagen und nach steigenden Löhnen rufen. Und sonst? Sonst vermutlich nichts. Denn wenn es ums Handeln geht, vergessen jene, die erbittert um die Macht ringen, gerne, wie mächtig sie sind.

Arm und Reich: Einfach ungerecht: Junge Menschen verdienen weniger als Alte, Frauen weniger als Männer und Leiharbeiter weniger als Festangestellte.

Einfach ungerecht: Junge Menschen verdienen weniger als Alte, Frauen weniger als Männer und Leiharbeiter weniger als Festangestellte.

(Foto: Foto: ddp)

Dabei muss die Politik den Zerfallserscheinungen der Arbeitswelt nicht tatenlos zusehen. Die Parteien könnten ebenso wie die gerne jammernden Arbeitgeber- und Gewerkschaftsfunktionäre dazu beitragen, dass die Kluft zwischen Reich und Arm schrumpft, dass die viel umworbenen Leistungsträger der Gesellschaft sich wieder stärker als solche behandelt fühlen. Dazu müssten die Beteiligten allerdings eines eingestehen: Sie haben selbst dazu beigetragen und tun es immer noch, dass der Wert der Arbeit heute mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Nach diesem Maß verdienen junge Menschen häufig weniger als ihre älteren Kollegen, Frauen bekommen nicht so viel wie Männer, und ein Leiharbeiter geht mit weniger Geld nach Hause als ein Festangestellter.

Angst um den Arbeitsplatz

Die Politik hat dies alles befördert. Staatliche Liberalisierung und Privatisierung etwa haben zum Boom des Niedriglohnsektors beigetragen. Beispiel Post und Telekom: Solange die Konzerne Monopolisten in Staatshand waren, winkten dort gutdotierte Jobs auf Lebenszeit. Heute versucht die Telekom, sich auf fragwürdige Art ihrer Callcenter-Mitarbeiter zu entledigen. Dabei handelt es sich nicht um gut abgesicherte Beamte, sondern um viele Teilzeitarbeiter, unter ihnen zahlreiche Frauen. Sie können vom Job auf Lebenszeit nur träumen.

Realität ist die tägliche Angst um den Arbeitsplatz. Die Sorge kennen auch die geschätzt 750.000 Zeitarbeiter, die nie wissen, ob und wo sie morgen noch jemand braucht. Und was ist der Lohn der Angst? Auf dem Gehaltszettel steht weniger als früher.

Mut zur Moderne

Das zeigt, dass Politik und Tarifparteien auf dem Weg in die Moderne versagt haben. Sie haben zwar die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte vorangetrieben, und vieles davon war richtig. Wichtig ist aber, dass die Menschen auch eine Belohnung für Mobilität und Unsicherheit erhalten. Doch Union und SPD schaffen es nicht einmal, einen einheitlichen Mindestlohn einzuführen, der Menschen mit Stundenlöhnen von drei oder vier Euro vor Armut bewahren könnte. Die Politik sieht außerdem zu, wie Firmen die Minijob-Gesetze ausnutzen, um reguläre Stellen in schlechter bezahlte Kleinstjobs aufzuspalten. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben Tarifverträge zu verantworten, die Männer im Ergebnis bei der Bezahlung immer noch besserstellen als Frauen, und die Zeitarbeit niedriger bewerten als die sichere Festanstellung.

Wer wirklich modern sein will, braucht mehr Mut. Innovativ wäre es etwa, wenn Leihkräfte ihr Pendlerleben mit Extraprämien vergolten bekämen. Ehrlich wäre es auch, wenn Funktionäre und Politiker nicht nur über die schlechten Arbeitschancen von Älteren lamentieren würden, sondern auch sagen, was sich dagegen tun lässt. Es könnte ja zum Beispiel gerecht sein, wenn Ältere mit abnehmender Leistungskraft weniger verdienen als Familienväter und -mütter in der Mitte des Berufslebens. Solche Debatten mögen neue Verteilungskämpfe zwischen Alt und Jung, zwischen regulär und prekär Beschäftigten entfachen. Sie wären aber wichtig, weil sie dazu beitragen könnten, das Maß für den Wert der Arbeit zurechtzurücken.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: