Arbeitsmarktreformen:Die Agenda 2010 im Check

Bundesagentur für Arbeit

Deutschland diskutiert über die Agenda 2010

(Foto: Jens Kalaene/dpa)

Der politische Streit um die Agenda 2010 tobt, SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will "Fehler" korrigieren. Doch was haben die Reformen wirklich bewirkt? Die Fakten.

Von Alexander Hagelüken und Thomas Öchsner

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz rückt einen Streit in den Vordergrund, der Deutschland seit mehr als zehn Jahren beschäftigt: Welche Vorzüge und Nachteile hat die Agenda 2010 von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder? Der reagierte von 2002 an auf die Diagnose, Deutschland sei der "kranke Mann Europas". Er setzte harte Sozialreformen durch und flexibilisierte den Arbeitsmarkt. Er erleichterte Leiharbeit und geringfügige Jobs und modernisierte die Arbeitsämter, die heute Arbeitsagenturen heißen. Außerdem wurde das Arbeitslosengeld bald meist nur noch ein Jahr gezahlt. Danach bekommt man Hartz IV. Kanzlerkandidat Schulz kündigt nun an, die "Fehler" der Reformen zu korrigieren. Was genau bewirkte die Agenda? Eine Überprüfung.

Hat die Agenda 2010 mehr Jobs gebracht?

Seit der Einführung der Reformen haben eindeutig sehr viele Deutsche Arbeit gefunden. Beim Start der Hartz-Gesetze 2003 waren deutlich mehr als vier Millionen, zwei Jahre danach sogar knapp fünf Millionen Menschen arbeitslos. Bis Januar 2017 fiel die Zahl auf rund 2,8 Millionen.

Auffällig ist, wie stark die Arbeitlosenqoute im Osten Deutschlands seit der Jahrtausendwende zurückging. Ein Zeichen für die wirtschaftliche Integration der früher getrennten Staaten, die mit der Agenda 2010 aber weniger zu tun hat.

Heute hat Deutschland einen der flexibelsten Arbeitsmärkte in Europa. "Die Reformen der Agenda 2010 haben den beeindruckenden Abbau der Arbeitslosigkeit mitgetragen", diagnostiziert der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt.

Welche Teile der Agenda was bewirkten, wird unterschiedlich beurteilt. So errechneten Klaus Wälde und Andrey Launov von der Uni Mainz große Effekte durch die bessere Vermittlungsarbeit. Mit dem Umbau der Arbeitsbehörden kamen auf einen Vermittler weniger Arbeitslose. Die bessere Vermittlungsarbeit habe die Arbeitslosenrate allein um zwei Prozentpunkte gesenkt. Kaum Jobs geschaffen habe dagegen die umstrittene Einführung von Hartz IV und die geringere Dauer des Arbeitslosengeldes I. Denn für Niedrigqualifizierte war die Kürzung anders als bei Hochqualifizierten nicht so groß, als dass sie große Anreize ausgelöst habe.

Unbestreitbar ist, dass die Zahl der Arbeitsplätze drastisch zunahm: 2,7 Millionen unbefristete sozialversicherte Jobs sind neu entstanden. Davon mehr als die Hälfte in Teilzeit. Der Beschäftigungsboom verdankt sich also auch kürzeren Arbeitszeiten.

Viele Ökonomen sehen neben der Agenda noch andere Faktoren, die die Arbeitslosigkeit reduzierten. So die Exportstärke deutscher Firmen. Die wurden etwa durch betriebliche Bündnisse mit Betriebsräten wettbewerbsfähiger und durch den Verzicht auf Lohnerhöhungen, die aber zugleich den Konsum einschränkten. "Die gute Konjunktur und moderate Lohnabschlüsse haben die Reformwirkung unterstützt", stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fest.

Wurden Arbeitslose oder Hilfsbedürftige schlechter gestellt als vorher?

Verlierer der Reform waren die Empfänger von Arbeitslosenhilfe. Zwei Drittel von ihnen bekamen nach der Reform weniger als vorher, im Durchschnitt waren es nach Angaben des IAB 240 Euro. Finanziell genutzt hat die Reform früheren Beziehern von Sozialhilfe, weil die Hartz-IV-Regelleistung höher ist als die frühere Sozialhilfe. Allerdings wurden die in der Sozialhilfe üblichen Zuschüsse für einmalige Anschaffungen, bis auf einige Ausnahmen, gestrichen. Die für die Hartz-IV-Empfänger zuständigen Jobcenter müssen aber helfen, etwa eine Erstausstattung für eine Wohnung zu finanzieren.

Gibt es mehr befristete Verträge?

Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge nahm zu, nachdem die ersten Hartz-Gesetze in Kraft getreten waren. 2003 gab es zwei Millionen zeitlich begrenzte Verträge, bis 2010 stieg ihre Anzahl deutlich. Heute sind es nur noch 2,5 Millionen Verträge:

Acht Prozent der Arbeitsverträge waren 2015 befristet. Auch bei den Neueinstellungen gibt es eine positive Tendenz: 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, musste sich fast jeder Zweite, der einen neuen Job ergatterte, mit einem Vertrag auf Zeit begnügen. 2015 traf das noch auf 42 Prozent der Neueingestellten zu, fast alle von ihnen wurden dem IAB zufolge unbefristet übernommen.

Wie hat sich die Leiharbeit entwickelt?

2003 wurde per Gesetz der Einsatz von Leiharbeitern erleichtert: Zeitarbeitsfirmen konnten fortan Arbeitskräfte anheuern und wieder entlassen, wenn beim Entleiher keine Nachfrage mehr bestand. Seitdem kletterte die Zahl der Leiharbeiter von gut 300 000 auf eine Million im Jahr 2016. Der starke Zuwachs hat positive und negative Folgen: Bei der Hälfte der Leiharbeit handele es sich um zusätzliche Jobs, sagen die IAB-Forscher. Andererseits verdränge Leiharbeit reguläre Beschäftigung, wenn Firmen das Instrument missbrauchen, um Kosten zu senken und den Kündigungsschutz zu umgehen.

Gibt es auch mehr Minijobber?

2003 erhöhte die Bundesregierung die Verdienstobergrenze für geringfügig Beschäftigte von 325 auf 400 Euro, mittlerweile sind es 450 Euro im Monat. Die Anzahl der Minijobber ist deshalb stark gestiegen. Heute sind es etwa fünf Millionen.

Die Bilanz fällt zwiespältig aus: Vor allem Hausfrauen würden gerne mehr arbeiten, bekämen aber keine Jobs, berichtete das Statistische Bundesamt. Die Mini-Stellen sind auch nur selten eine Brücke zu einem festen Vollzeitjob. Außerdem fanden IAB-Forscher heraus, dass Minijobs im Einzelhandel oder Gastgewerbe reguläre Vollzeitjobs verdrängen können - auch das war nicht im Sinne der Erfinder. Für Rentner oder Studenten sind die Minijobs hingegen ideal, um etwas hinzuzuverdienen.

Hat die Agenda 2010 dazu geführt, dass es in Deutschland mehr Niedriglöhner gibt?

Teilweise ja, aber der Anstieg setzte schon in den 1990er Jahren ein. Im Boomland Deutschland stieg der Anteil der Niedriglöhner, die weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns erhalten, bis 2010 auf 22 Prozent. Höher war der Anteil nach Angaben des EU-Statistikamts unter den EU-Staaten nur im Baltikum, in Polen, Rumänien und Zypern. Inzwischen hat sich der Anteil der Niedriglöhner stabilisiert.

Was sagen Arbeitsmarktforscher zu den Vorschlägen von Schulz?

Martin Schulz liebäugelt damit, die Bezugszeit für das im Vergleich zu Hartz IV deutlich höhere Arbeitslosengeld I zu verlängern, weil man bisher als Arbeitslosengeld-Empfänger bereits nach zwölf Monaten ins Hartz-IV-System abrutschen kann. Arbeitsmarktforscher warnen jedoch davor, die Anreize für die schnelle Jobsuche zu verringern. Studien zeigen, dass dies den Verbleib in der Arbeitslosigkeit verlängert. Sie sehenn auch die Forderung, sachlich nicht begründete befristete Verträge abzuschaffen, skeptisch. IAB-Forscher Christian Hohendanner fürchtet Ausweichreaktionen der Arbeitgeber. Diese könnten mehr Leiharbeiter einsetzen, freie Mitarbeiter auf Honorarbasis beschäftigen oder Arbeitsbereiche auslagern.

Haben die Arbeitsmarktreformen den Anreiz zum Arbeiten erhöht?

Das Risiko für Arbeitslose, schnell zum Hartz-IV-Fall zu werden, ist groß. Dies hat dazu geführt, dass Bewerber mehr Kompromisse machen, was ihren Lohn und ihre Arbeitsbedingungen angeht. Manche Ökonomen halten allerdings den Abstand zwischen Hartz IV und dem Verdienst, gerade im Niedriglohnsektor für zu gering. Dadurch lohne es sich nicht für Arbeitslose, einen regulären Job aufzunehmen, vor allem wenn sie sich durch Schwarzarbeit oder einen Minijob Geld dazu verdienen.

Nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich zu und welche Rolle spielt die Agenda?

Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen ist in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren spürbar gestiegen. Wissenschaftler messen dies durch den Gini-Koeffizienten, der nach Angaben der OECD von 0,26 auf fast 0,3 stieg (bei einem Wert von eins würde das ganze Einkommen auf einen einzigen Reichen entfallen). Dieser Anstieg, für den etwa die Erosion sozialversicherter Vollzeitjobs verantwortlich ist, fand allerdings großteils bereits vor der Agenda statt. "Seit 2005 ist die Einkommensverteilung stabil", sagt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.

Andere Ökonomen kontern: Seit der Agenda ist die Ungleichheit auf hohem Niveau geblieben, obwohl seither Millionen neue Stellen entstanden. Normalerweise verringert ein Job-Boom die Unterschiede zwischen Arm und Reich deutlich. Das geschah seit der Agenda nicht, weil viele Niedriglohn-, Teilzeit- und Minijobs entstanden. In den ersten drei Jahren stieg die Beschäftigung um 1,5 Millionen, wovon nur zehn bis 20 Prozent unbefristete Vollzeitstellen waren, ermittelte Professor Klaus Wälde: "Unter mehr Beschäftigung darf man heute nicht das gleiche verstehen wie vor 20 Jahren". Die Unternehmer- und Vermögenseinkommen stiegen von 2000 bis 2014 um 30 Prozent - vier Mal so stark wie die Löhne. Während die zehn Prozent Bestverdiener ihr verfügbares Einkommen um 14 Prozent steigerten, blieb in der Mitte gerade mal ein Prozent übrig - und die ärmsten zehn Prozent verloren fast zehn Prozent.

Wie lässt sich die Ungleichheit senken?

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger fordert, Gutverdiener stärker zu belasten und Geringverdienern zu helfen. "Der Spitzensteuersatz müsste wieder so hoch sein wie zu Zeiten der Regierung Helmut Kohl", sagt er. Das wären 56 statt heute 42 Prozent (oder 45 Prozent für sehr hohe Einkommen). Dafür soll die höchste Besteuerung nicht schon ab gut 50 000 Euro Einkommen greifen. Bei der Erbschaftsteuer will Bofinger die Ausnahmen etwa für Firmen schleifen und alles zu 15 Prozent besteuern. Die Einnahmen soll der Staat etwa einsetzen, um Niedrigverdiener von Sozialabgaben zu entlasten, die oft ab dem ersten Euro zugreifen. Dadurch würde sich für sie Arbeiten mehr lohnen. "Außerdem sollte der Staat das Geld in Bildung und Kinderbetreuung investieren, um breiten Schichten gute Arbeitsplätze zu ermöglichen und das Arbeiten zu erleichtern."

Klaus Wälde von der Uni Mainz bringt Lohnzuschüsse ins Gespräch. Damit könnten jene schlecht bezahlten Jobs, die seit der Agenda 2010 entstanden sind, für die Arbeitnehmer lukrativer gemacht werden. Auf diese Weise würden sie stärker vom Beschäftigungsboom profitieren, den Deutschland erlebt.

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