Arbeitsmarkt: Behinderte Menschen:Draußen vor der Tür

Der deutsche Arbeitsmarkt boomt. Doch manche profitieren davon überhaupt nicht - zum Beispiel Behinderte. Viele Unternehmen kaufen sich von der Verpflichtung, behinderte Menschen zu beschäftigen, einfach frei.

Thomas Öchsner

Behinderte Menschen haben vom Wirtschaftsaufschwung bisher nicht profitiert. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten ist in den vergangen drei Jahren bis April 2011 sogar um mehr als 15.000 auf etwa 183.500 gestiegen. Dies geht aus Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen. "Die Situation arbeitsloser schwerbehinderter Menschen ist weiterhin nicht zufriedenstellend", sagt der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, der SZ.

Rollstuhlfahrerin

Eine Frau in einem Rollstuhl fährt über ein Kopfsteinpflaster, aufgenommen im Dezember 2009 in Regensburg.

(Foto: dpa)

Die Zahlen der Nürnberger Bundesagentur sind eindeutig: Egal ob Kurzzeit-Erwerbslose mit Arbeitslosengeld I oder Hartz-IV-Empfänger - der Anteil der Schwerbehinderten an allen Arbeitslosen hat sich deutlich erhöht. Vor drei Jahren lag er bei 4,9 Prozent. Jetzt sind es bereits 6,0 Prozent. Dies liegt in erster Linie an der dramatischen Zunahme der arbeitslosen Schwerbehinderten zwischen 55 und 64 Jahren. Deren Zahl wuchs um mehr als 50 Prozent auf gut 67000.

Hauptgrund für die Misere: Seit Anfang 2008 sind bestimmte Vorruhestandsregeln weggefallen. In der Statistik der BA werden deshalb deutlich mehr Ältere als arbeitslos erfasst als früher. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) spricht deshalb von statistischen Effekten. Der Verband räumt aber ein, dass schwerbehinderte Menschen vom Aufschwung "erst zeitverzögert profitieren, weil sie oft schwerer vermittelbar sind".

Allerdings hat bei den älteren Schwerbehinderten die Arbeitslosigkeit deutlich stärker zugenommen als bei den Jobsuchenden ohne Handicap. Der Behindertenbeauftragte Hüppe warnt deshalb: "Wenn nicht alsbald wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wird sich dieser Trend aufgrund des demographischen Wandels in den Betrieben weiter verstärken."

Er fordert bessere Anreize für die Unternehmen, um schwerbehinderte Menschen einzustellen. "Manchmal wären hier langfristige, wenn auch niedrigere, Eingliederungszuschüsse nachhaltiger als derzeitige kurzfristige aber sehr hohe Zuschüsse."

"Mangelnde Kompetenz" in den Jobcentern?

Besonders in kleinen und mittleren Unternehmen sieht er ein großes Potential, mehr schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Hüppe kritisiert auch, dass die Vermittlung schwerbehinderter Menschen "vielerorts mangels Kompetenz der zuständigen Mitarbeiter in Arbeitsagenturen und Jobcentern immer noch schlecht" sei. Die Arbeitslosenquote von Schwerbehinderten lag 2009 bei 14,6 Prozent, eine neuere Zahl gibt es noch nicht. Die Quote für alle Erwerbslosen betrug im April 2001 dagegen nur 7,3 Prozent.

In Deutschland sind Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern verpflichtet, fünf Prozent behinderte Menschen einzustellen. Wird diese Quote nicht erfüllt, müssen die Firmen eine Ausgleichsabgabe zahlen. Daraus werden Förderprogramme für Behinderte finanziert.

Lediglich zwei Geldbußen für Unternehmen

Die Arbeitgeberverbände verweisen darauf, dass zwischen 2007 und 2009 bei den privaten Unternehmen gut 45.000 neue Stellen für Schwerbehinderte entstanden seien. Auch das Bundesarbeitsministerium meldet einen positiven Trend: Knapp 900.000 Schwerbehinderte hatten 2009 überhaupt einen Job, etwa 160000 mehr als sieben Jahre früher.

Die Zahl der Unternehmen, die lieber zahlen, als die Fünf-Prozent-Quote einzuhalten, ist jedoch nicht zurückgegangen. Sie lag nach Angaben der BA 2008 und 2009 stabil bei etwa 85.000. Davon beschäftigten knapp 38.000 überhaupt keinen Behinderten.

Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland, hält dies für einen "Skandal". Sie verlangt, Betriebe ohne Schwerbehinderte mit einer höheren Abgabe zu belegen. Außerdem fordert sie eine Pflichtquote für Behinderte bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen. Das Arbeitsministerium hält davon nichts. Die geltenden Regeln seien ausreichend, heißt es dort.

Scharfe Kritik kommt auch von der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der SPD, Annette Kramme. Sie weist daraufhin, dass die Zahlung der Ausgleichsabgabe die Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht aufhebe. Dies ergebe sich aus den einschlägigen juristischen Kommentaren zum Sozialgesetzbuch. Trotzdem gingen die Unternehmen quasi straffrei aus.

Die Abgeordnete fand durch eine Anfrage an die Bundesregierung heraus, dass die zuständige Bundesagentur für Arbeit 2010 lediglich zwei Geldbußen gegen Arbeitgeber verhängt haben, weil sie ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen. Kramme hält dies für "einen Witz. Genauso gut könnte man das Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg abschaffen und künftig Autofahrern, die bei Rot über die Ampel fahren, nur kurz ins Gewissen reden", sagt sie.

Im Arbeitsministerium heißt es dagegen: Ziel des Systems sei es nicht, "Unternehmen zu bestrafen, sondern zu motivieren, verstärkt schwerbehinderte Menschen einzustellen".

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