Hartz IV:Wenn der Bürgermeister zur Tafel muss

Landtagswahlen Mecklenburg-Vorpommern

Dörfliche Einöde: Sowie in Voigtsdorf, einer Gemeinde im Südosten Mecklenburg-Vorpommerns, sieht es in vielen Orten des Bundeslandes aus.

(Foto: Peer Grimm/dpa)

Holger Klukas lebt von Hartz IV - und ist Chef einer Gemeinde. Belohnt wird er für das Ehrenamt nicht.

Von Thomas Öchsner

Auf der Holzbank hinter seinem Häuschen sitzt Holger Klukas am liebsten. Von hier aus beobachtet der Bürgermeister mit dem Fernglas die Kraniche, die fast jedes Jahr unten in der morastigen Senke brüten. Hier ertappt sich Klukas manchmal bei dem Gedanken, wie fein ein Wintergarten aussehen würde, wenn er genug Erspartes dafür hätte. Und hier würde er im Sommer auch die Lokalzeitung mit den Nachrichten aus dem Landkreis und den Dörfern lesen, für deren Wohlergehen er verantwortlich ist. Aber für ein Abo reicht das Geld auch nicht. Der ehrenamtliche Bürgermeister von Gallin-Kuppentin in Mecklenburg-Vorpommern ist seit 1998 ohne feste Stelle und lebt wie seine Frau von Hartz IV.

"Wir hatten ein Leben vor Hartz IV", sagt er auf seiner Lieblingsbank. Das aber ist lange her.

Klukas, 61, ist Diplom-Ingenieur. Nach seinem Studium hat er für ein Möbelwerk den Einkauf gemanagt, bis nach der Wende das Unternehmen pleiteging. Der Neueigentümer machte sich mit den Maschinen aus dem Staub. "Ich war der letzte, der dort das Licht ausmachte", sagt er. Seitdem ging für Klukas nicht mehr viel.

Eine klassische Arbeitslosen-Karriere

Er hat etliche Bewerbungen geschrieben und einen Gabelstaplerschein gemacht, einen Logistik-Lehrgang und Computerkurse besucht, als ABM-Kraft Touristen Kraniche gezeigt, da und dort mal für ein paar Monate gejobbt. Eine klassische Arbeitslosen-Karriere. Und als er zur Jahrtausendwende einen unbefristeten Job schon fast sicher hatte, war er zu ehrlich: Er erzählte seinem zukünftigen Arbeitgeber von seinem Schlaganfall ein Jahr zuvor, dann wollte der ihn nicht mehr haben. "Ich habe keinen Fuß mehr auf die Matte gekriegt. Ich war denen einfach zu alt", sagt Klukas.

Damit hat sich der bärtige Mecklenburger längst abgefunden. Doch als Bürgermeister ist er so etwas wie ein Rebell. Klukas wehrt sich dagegen, dass er nur einen Teil seiner Aufwandsentschädigung für sein Ehrenamt behalten darf und der Rest mit dem Hartz-IV-Regelsatz verrechnet wird. "Wenn ich eine Arbeit hätte, könnte ich das Geld behalten. So erzeugt man eine Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den ehrenamtlichen Bürgermeistern."

Die Hartz-IV-Bürgermeister sind ein ostdeutsches Phänomen, nicht zuletzt, weil dort in einigen Landstrichen die Arbeitslosigkeit auch 25 Jahre nach der deutschen Einheit hoch geblieben ist. Wie viele es gibt, ist nicht bekannt. Klukas kennt zumindest zwei weitere Hartz-IV-Kollegen im Landkreis Ludwigslust-Parchim, zu dem auch seine Gemeinde gehört. "Von denen redet aber keiner darüber, vielleicht, weil sie sich schämen", sagt er.

Die Ehrenamtspauschale durfte er behalten - aber nur zunächst

Bei ihm sieht die Rechnung so aus: Als er 2006 mit knapp 70 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt wurde, lebten in seiner Gemeinde mit fünf Dörfern mehr als 500 Menschen. Die 500 Euro Ehrenamtspauschale, die sich nach der Zahl der Einwohner richtet, wurde damals nicht mit den Hartz-IV-Leistungen verrechnet.

Klukas durfte das Geld behalten, bis sich nach Urteilen des Sächsischen Landessozialgerichts und des Bundessozialgerichts 2010 die Rechtslage änderte. Aufwandsentschädigungen sind demnach, so regelt es auch ein Erlass des Bundesfinanzministeriums, im Prinzip als Einkommen zu behandeln. Seitdem hat er von dem Geld, das er als Bürgermeister bekommt, nicht mehr so viel.

420 Euro stehen ihm rechtlich zu, nachdem die Zahl der Einwohner unter 500 gesunken ist. 350 Euro bekommt er, weil er und die Gemeinde sparen wollten, wenn der Bürgermeister sowieso nicht alles behalten darf. Davon bleiben ihm nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 200 Euro, alles andere wird von seinem Hartz-IV-Geld abgezogen.

"Einer muss sich doch kümmern"

Klukas wollte sich damit jedoch nicht zufriedengeben. Er hat dem Bürgerbeauftragten von Mecklenburg-Vorpommern geschrieben, an den Petitionsausschuss des Landtags und des Deutschen Bundestags. Als Antwort kamen zum Teil ermunternde Briefe. Erwin Sellering, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, schrieb ihm: "Ich kann nachvollziehen, dass Sie im Moment das Gefühl haben, der Staat erkenne ihren Einsatz als ehrenamtlicher Bürgermeister nicht so an, wie er es verdient." Aber er möge doch bitte sein Engagement fortführen.

Das wird Klukas auch tun. "Einer muss sich doch kümmern", sagt er. In der Gemeinde gibt es keine Grundschule und keinen Supermarkt. Der Zug hält schon lange nicht mehr. Die Jungen wandern dahin ab, wo es Arbeit gibt. Jedes Dorf hat sein Storchennest, doch der Tourismus blüht nicht in dieser verlassenen Gegend. Hätten sich nicht ein paar Berliner und Hamburger hier Immobilien für den Ruhestand oder ein ruhiges Wochenende gekauft, würde es hier noch mehr verfallene Häuser geben. "In solchen Gemeinden ist der Bürgermeister oft der letzte Ansprechpartner der Bürger", sagt Klaus-Michael Glaser vom Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern. Er hält es deshalb für "ein fatales Signal, ehrenamtlich tätigen Arbeitslosen Geld wegzunehmen, während der neben dem Beruf engagierte Nachbar das Geld obendrauf kriegt".

Klukas muss also, bis er und seine Frau ihre Rente bekommen, weiter sparen: "Als Hartz-IV-Empfänger muss man alles abwerfen, was überflüssig ist." Er hat aufgehört zu rauchen. Die Hausratversicherung hat die Familie gekündigt. Sonderangebote studieren seine Frau und er genau. "An Urlaub ist gar nicht zu denken." Ihre Eltern haben ihm und seiner Gattin eine Flusskreuzfahrt auf der Elbe bezahlt, die er organisiert hat. Das kleine Auto haben ihm seine drei Kinder gekauft. "Schön ist das nicht", sagt er. "Aber ich kann mir gar nicht leisten, stolz zu sein", sagt er.

Alle 14 Tage geht Klukas sogar zur Tafel ins benachbarte Lübz. Dort bekommt er Brot, manchmal einen Kuchen. Es gibt je nach Jahreszeit Paprika, Bananen, Pfirsiche, auch mal eine Melone und ganz selten Fleisch. "Ich will mich nicht verstecken, auch wenn ich es erbärmlich finde, dass ich da hingehen muss", sagt er. Geschadet hat ihm dies nicht.

Der Bürgermeister ein Hartz-IV-Empfänger - das ist für die Bürger schon lange kein Thema mehr, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Vor einiger Zeit schrieb ein Mitbürger Klukas diese Zeilen: "Hiermit teile ich Ihnen mit, dass Sie mir bitte nicht zum 70. Geburtstag zu gratulieren brauchen. Sicherlich werden Sie noch andere Möglichkeiten haben, um an ein Stück Kuchen zu kommen."

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