Arbeitsgericht: Präsidentin:Warum werden Klorollen mitgenommen?

Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt, über Gerechtigkeitsfragen und harte Urteile gegen diebische Angestellte.

D. Esslinger

Die Arbeitsgerichte stehen seit Monaten in der Kritik. Unternehmer werfen dem Bundesarbeitsgericht vor, mit weltfremden Urteilen zur Eskalation von Arbeitskämpfen beizutragen. Zugleich erregt sich die Öffentlichkeit über Fälle, in denen Menschen wegen einer Frikadelle, eines Kassenbons, eines Bienenstichs oder sechs Maultaschen den Job verlieren. Ingrid Schmidt ist Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt und dort auch Vorsitzende des Ersten Senats, der als besonders mächtig gilt: Er ist für Arbeitskämpfe zuständig - für die es in Deutschland keine Gesetze gibt. Allein Richter bestimmen, was erlaubt ist und was nicht.

maultaschen, Flashmob, Arbeitnehmerproteste; Fotos: dpa, ddp

Ingrid Schmidt, 54, war zu Beginn ihrer Karriere an hessischen Sozialgerichten tätig, bevor sie im August 1994 Richterin am Bundesarbeitsgericht in Erfurt wurde. Seit März 2005 ist sie dessen Präsidentin - die erste Frau in diesem Amt.

(Foto: Fotos: dpa)

SZ: Sind Sie eigentlich je von einem Politiker gebührend beneidet worden?

Ingrid Schmidt: Wir? Beneidet? Für die Rolle des Ausputzers, die uns die Politik zuweist?

SZ: Es ist doch ein Privileg, nicht nur Recht zu setzen, sondern durch seine Urteile auch selber Recht zu schaffen.

Schmidt: Na klasse (lacht).

SZ: Und einfach haben Sie es dabei auch: Sie brauchen bloß zwei Kollegen in Ihrem Senat zu überzeugen, Ihre Beratungen sind geheim, und der Bundesrat muss Sie auch nicht kümmern.

Schmidt: Konsensfindung in der Politik ist sicher schwierig. Aber in die Rolle des Ersatzgesetzgebers haben wir uns nicht gedrängt. Wenn der Gesetzgeber seine Schutzpflichten aus dem Grundgesetz nicht wahrnimmt, sind eben die Gerichte gefragt. So gibt das Grundgesetz jedermann das Recht, sich zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit anderen zusammenzuschließen, also zum Beispiel in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden - und entsprechend aktiv zu werden. Und eigentlich müsste der Gesetzgeber Regeln aufstellen, was solche Vereinigungen dürfen, und was nicht. Das hat er aber in sechzig Jahren nicht getan.

SZ: Bedauern Sie das wirklich?

Schmidt: Als Richter wünscht man sich nichts mehr als klare Gesetze.

SZ: Deren Fehlen eröffnet Ihnen aber Gestaltungsmöglichkeiten wie Richtern anderer Gebiete nicht.

Schmidt: Das stimmt so nicht. Auch Straf- und Zivilrichter entwickeln das Recht weiter. Denken Sie nur daran, wie der Bundesgerichtshof den Deal im Strafverfahren ermöglicht hat. Gesetze können nicht jeden Einzelfall vorab regeln. Dafür hat der Gesetzgeber die Gerichte. Und was das Arbeitskampfrecht betrifft: Das ist reines Verfassungsrecht. Wir leiten allein aus dem Grundgesetz die Regeln für den Arbeitskampf ab.

SZ: Zum Beispiel haben Sie auf diese Weise Flashmobs für rechtmäßig erklärt. Eine Gewerkschaft darf nun einen Lebensmittelladen lahmlegen, indem Aktivisten die Einkaufswagen mit Cent-Artikeln vollpacken und dann an der Kasse stehen lassen. Außer Gewerkschaftern hat niemand dieses Urteil verstanden.

Schmidt: Rechtsfindung kann sich nicht daran ausrichten, wer lobt und wer tadelt.

SZ: In Ihrem Urteil steht, gegen einen Flashmob könne ein Laden sich wehren, indem er schließt.

Schmidt: Sie sind mir zu schnell. Der Einzelhandelsverband Berlin-Brandenburg wollte die Aktionsform Flashmob in jedweder Erscheinungsform, also generell, verbieten lassen. Das Führen eines Arbeitskampfes durch eine Gewerkschaft gehört aber zur Betätigungsfreiheit, die als ein Grundrecht geschützt ist. Als Richter dürfen Sie daher nicht fragen: Was muss geschehen, damit eine Aktion erlaubt ist? Sie müssen die Frage umgekehrt stellen: Unter welchen Umständen wird die Ausübung eines Grundrechts verboten? Das ist etwa bei Kampfformen der Fall, die dem Gegenüber keine Möglichkeit zur Verteidigung lassen.

SZ: Genau das kennzeichnet den Flashmob.

Schmidt: Der Arbeitgeber kann sich wehren, indem er seinen Betrieb schließt.

SZ: Damit würde er sich einen großen Schaden zufügen, um einen mittelgroßen zu verhindern.

Schmidt: Er fügt sich einen Schaden zu, das ist richtig. Aber mit der Betriebsschließung entfällt auch seine Pflicht, Löhne zu zahlen. Also haben auch die Arbeitnehmer einen Schaden. Und in dem Moment wird die Frage sein: Wer von beiden hält länger durch? Im Arbeitskampf ist nichts ohne Risiko, für keinen. Arbeitnehmer, die plötzlich keinen Lohn mehr erhalten, werden Druck auf die Gewerkschaft ausüben. Und was glauben Sie, wie oft eine Gewerkschaft es sich erlauben kann, gegen den Willen von Filial-Beschäftigten zu handeln?

Branchen mit Besonderheiten

SZ: Normalerweise kämpfen in Tarifkonflikten Menschen für ihre unmittelbaren Interessen. Beim Flashmob aber kann jeder mitmachen: Gewerkschafter, Freunde, Tanten.

Schmidt: Bei jedem Arbeitskampf sind Dritte beteiligt. Zur Kundgebung bei einem Warnstreik kommen doch auch Menschen von überall her, damit die Gewerkschaft Stärke demonstrieren kann.

SZ: Können wir uns darauf einigen, dass Ihre Entscheidung zumindest zur Eskalation von Arbeitskämpfen beiträgt?

Schmidt: Das kann ich nicht nachvollziehen. Wir verlangen, dass sich die Gewerkschaft immer deutlich als Veranstalter einer Aktion zu erkennen gibt. Und sie muss immer in der Lage sein, sie zu steuern. Hier hatte Verdi 40 bis 50 Teilnehmer zusammengetrommelt, und die hatte sie im Griff. Hätte die Gewerkschaft hingegen einen Aufruf ins Internet gestellt und allgemein zum Rewe an den Berliner Ostbahnhof gerufen, hätte man diese Steuerbarkeit wohl nicht mehr annehmen dürfen.

SZ: Würden Sie auch Betriebsbesetzungen wie in Frankreich erlauben?

Schmidt: Wer das befürchtet, sollte das Urteil mal lesen. Da steht, dass Aktionen nicht angemessen sind, wenn sie Leben, Freiheit, Gesundheit und Eigentum verletzen. Muss ich noch deutlicher werden?

SZ: Vor zwei Jahren haben Sie Solidaritätsstreiks genehmigt. Drucker hatten damals den Streik von Zeitungsredakteuren in einer anderen Tochterfirma ihres Konzerns unterstützt. Die Arbeitgeber sagen, auch dies sei ein Instrument, gegen das sich der Angegriffene nicht wehren könne - weil an ihn ja keine Forderungen gestellt werden, die er erfüllen könnte.

Schmidt: Das ist doch nicht die Frage, um die es geht. Zu klären war etwas anderes: Ging es bei dem Streik in der Druckerei objektiv darum, einen legitimen anderen Arbeitskampf zu unterstützen? Oder wollten die Drucker Forderungen für sich durchsetzen, obwohl sie, was dies betrifft, in der Friedenspflicht waren? Wenn das Ziel eines Arbeitskampfs zulässig ist, müssen die Konfliktparteien in der Wahl ihrer Mittel weitgehend frei sein.

SZ: Es ging hier tatsächlich um Unterstützung.

Schmidt: Verdi wollte, dass der Arbeitgeber der Druckerei auf den Zeitungsverlag einwirkt, den Konflikt zu beenden. Und zwischen diesen Arbeitgebern eines Konzerns bestehen enge Verflechtungen. Ein Unterstützungsstreik von Werftarbeitern in Hamburg für Küchenhilfen in München wäre dagegen kaum zulässig.

SZ: Haben Sie den Flashmob im Einzelhandel auch deshalb erlaubt, weil angelernte Verkäuferinnen nicht die Kampfkraft von Facharbeitern in der Metallindustrie haben?

Schmidt: Die Gegebenheiten für einen Arbeitskampf sind von Branche zu Branche verschieden und verändern sich laufend. Das produziert neue Kampfformen und -taktiken. Dagegen sind Arbeitgeber in den vergangenen Jahren vorgegangen und wollten grundsätzliche Verbote erreichen: Flashmobs, Unterstützungsstreiks und auch Sozialpläne auf der Basis von Tarifverträgen. Sie fanden, Betriebsvereinbarungen reichten dazu aus. Aber hier grundsätzlich "geht gar nicht" zu sagen, das wäre von der Verfassung nicht gedeckt. Im Übrigen geht es im Arbeitskampfrecht immer darum, beide Seiten gleich stark zu halten. Denn immer dort, wo diese Parität nicht besteht, kommt bald der Ruf nach dem Staat. Tarifautonomie heißt aber, dass der Staat sich aus den Konflikten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern heraushalten soll.

"Diese Kritik war völlig daneben"

SZ: Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse von der SPD hat die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte neulich barbarisch und asozial genannt. Er regt sich über etwas anderes auf: Dass man fristlos gekündigt werden darf, wenn man sechs Maultaschen mitnimmt.

Schmidt: Diese Kritik war völlig daneben. Seit Jahrzehnten sagt die Rechtsprechung: Diebstahl und Unterschlagung auch geringwertiger Sachen sind ein Kündigungsgrund. Es gibt in dem Sinne also keine Bagatellen. Jeder frage sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Tasche nehmen lassen würde, bevor er reagiert. Wir Arbeitsrichter müssen aber prüfen, ob ein Arbeitgeber mit Recht sagen kann: Ich habe das Vertrauen in meinen Mitarbeiter verloren und will mich deshalb von ihm trennen. Oder wiegt das Interesse des Arbeitnehmers schwerer - sodass der Arbeitgeber angewiesen werden muss, den Mitarbeiter zu behalten?

SZ: Trotzdem hat sich bei den Leuten der Eindruck breitgemacht: Wer seine Firma ruiniert, kriegt eine Abfindung; wer sich sechs Maultaschen nimmt, kriegt die fristlose Kündigung.

Schmidt: Wir haben eine Wirtschaftskrise. Deshalb werden nun fundamentale Gerechtigkeitsfragen diskutiert. Das ist auch richtig so. Aber diese Fragen können nicht stellvertretend von den Arbeitsrichtern beantwortet werden. Die müssen sich ans geltende Recht halten, in dem Fall ans Bürgerliche Gesetzbuch.

SZ: Und wie steht es mit Artikel eins des Grundgesetzes: Wird nicht die Würde des Menschen verletzt, wenn wegen - sagen wir - 2,39 Euro seine Lebensleistung nichts mehr gilt?

Schmidt: Meine Frage ist eine andere: Wie kommt man eigentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzunehmen? Oder eine Klorolle, oder stapelweise Papier aus dem Büro? Warum solche Eigenmächtigkeiten? Das hat was mit fehlendem Anstand, aber auch mit unerfüllten Erwartungen zu tun. Ein Arbeitnehmer erwartet doch von seinem Arbeitgeber nicht nur, dass er sein Geld bekommt. Er erwartet auch Anerkennung, und dass er wie ein Mensch behandelt wird. Aber umgekehrt ist es genauso: Ein Arbeitgeber erwartet, dass ein Arbeitnehmer das Interesse des Unternehmens mitdenkt. Wenn diese Beziehung gestört ist, dann kommt es dazu, dass ein Arbeitnehmer etwas mitgehen lässt und ein Arbeitgeber auch bei Kleinigkeiten die Vertrauensfrage stellt.

SZ: Und für die Rechtsprechung macht es dann keinen Unterschied, ob jemand Maultaschen mitgehen lässt oder die Friteuse?

Schmidt: Es kommt auf die Umstände an. Zum Beispiel darauf, ob es - wie hier in dem Konstanzer Altenheim - klare Anweisungen gibt, ob man Reste mitnehmen darf oder nicht. Oder darauf, wer welche Tat begeht. Eine Kassiererin, die fünf Euro aus der Kasse nimmt, kann nicht bleiben. Bei einer Putzfrau, die den Schein im Laden findet und einsteckt, reicht es hingegen vielleicht, sie mit einer Abmahnung zu warnen. Wir hatten auch mal den Fall einer Klinik, da stand eine alte OP-Lampe herum. Die wurde nicht mehr benutzt. Eine Schwester nahm und verkaufte sie, und mit dem Geld besorgte sie Garderobenhaken für einen Aufenthaltsraum. Das war eine Eigenmächtigkeit, aber keine Bereicherung. Die Kündigung war rechtswidrig.

SZ: Nun will die SPD den Rauswurf wegen Bagatelldelikten verbieten.

Schmidt: Neue Gesetze sollten mehr Probleme lösen als schaffen. Ein neues Gesetz müsste die Frage beantworten, wo genau ist denn die Grenze zur Bagatelle? Was kann man einem Arbeitgeber zumuten: fünf, zehn oder 50 Euro? Nehmen wir an, die Grenze wird bei fünf Euro gezogen. Ich sage Ihnen voraus, beim ersten Fall, der vor einem Arbeitsgericht landen wird, geht es dann um 5,10 Euro. Und die Frage wird sein, soll jetzt wegen zehn Cent das ganze Klavier zum Spielen gebracht werden?

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