Anklage in den USA:Für Winterkorn wird es jetzt richtig eng

Der frühere VW-Vorstandschef soll alle Warnungen vor weiteren Abgas-Tricksereien ignoriert haben. US-Ankläger werfen ihm nun bewusste Täuschung vor - für alle Beteiligten ein Desaster.

Von Georg Mascolo, Klaus Ott und Nicolas Richter

Am 27. Juli 2015 hat ein Jurist des VW-Konzerns einen Termin ganz oben, bei Vorstandschef Martin Winterkorn. Termine bei Winterkorn, genannt "der Alte", sind im Konzern gefürchtet, denn der Chef gilt als autoritär, zuweilen sogar als cholerisch. Als sich der Jurist hingesetzt hat, fragt ihn Winterkorn, warum das Thema der amerikanischen Dieselautos denn jetzt hier beim Vorstand lande. Der Jurist, ein Abteilungsleiter, ist kurz verunsichert, bringt dann aber eine einfache Antwort hervor. Er mache sich Sorgen darüber, sagt der Jurist, wie sich das Problem mit den Dieselmotoren auf dem US-Markt entwickele und wo das noch alles hinführen könne. So seine Version des Gesprächs in einer zweitägigen Aussage bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig.

Der hochrangige Jurist ist mittlerweile Beschuldigter in einem der deutschen Strafverfahren in der Abgasaffäre bei Volkswagen. Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR hat der Jurist den Ermittlern umfassend von dem Termin bei Winterkorn in dessen Büro berichtet. Die beiden hätten sich demnach darüber unterhalten, dass in Dieselfahrzeugen von VW für den US-Markt eine betrügerische Software verbaut sei, die bei den offiziellen Messungen der Behörden auf einem Prüfstand für einen geringen Schadstoffausstoß sorge, im normalen Fahrbetrieb aber nicht.

Die Experten für technische Entwicklung im Konzern seien der Meinung, will der Jurist Winterkorn erklärt haben, dass dies eine verbotene Software sei, ein defeat device. Der Jurist, der als Beschuldigter ein Interesse daran haben könnte, andere zu belasten, will Winterkorn damals den Rat gegeben haben, es nicht darauf anzulegen, von den US-Behörden überführt zu werden, sondern selbst die Initiative zur Aufklärung zu ergreifen. Von diesem Gespräch gibt es bei VW allerdings unterschiedliche Versionen.

"Wenn man versucht, die USA zu täuschen, zahlt man einen hohen Preis"

Inzwischen verdächtigen Ermittler auf beiden Seiten des Atlantiks Winterkorn, dass er sich schuldig gemacht habe - weil er vom Betrug gewusst und nichts dagegen getan habe. In Deutschland wird der frühere VW-Chef als Beschuldigter geführt. Die US-Justiz hat ihn, wie erst jetzt bekannt wurde, im März angeklagt wegen des Verdachts, er habe an einer Verschwörung teilgenommen, um Kunden und Behörden zu betrügen, gegen Umweltgesetze zu verstoßen und den Konzern und sich selbst zu bereichern. Gegen Winterkorn wurde Haftbefehl erlassen. "Wenn man versucht, die USA zu täuschen, zahlt man einen hohen Preis", drohte Justizminister Jeff Sessions.

Im Mittelpunkt der US-Vorwürfe steht ein Treffen im Sommer 2015 am "Schadenstisch" in der Wolfsburger Zentrale, wo der Konzern auf höchster Ebene über technische Probleme berät. Allerspätestens da soll Winterkorn von den Tricksereien erfahren haben, mit denen Dieselautos von VW die strengen Abgasgrenzwerte in den USA scheinbar einhielten. Die US-Justiz wirft Winterkorn vor, dass er damals, am 27. Juli 2015, angeordnet habe, weiterzumachen und den Schwindel keinesfalls offenzulegen. Glaubt man dem VW-Juristen, dann hat er Winterkorn am selben Tag sogar noch eindringlicher vor dem drohenden Ungemach gewarnt.

Für VW ist die Anklage ein echtes Desaster

Winterkorns Anwalt Felix Dörr sagte auf Anfrage, er könne zu der Aussage des VW-Juristen nichts sagen, da ihm die Vernehmung nicht vorliege. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig habe bisher nur wenig Einblick in die Ermittlungsakten gewährt. "Wir kennen bislang keine Vernehmungen", sagte Dörr.

Die Anklage gegen Winterkorn ist ein Desaster für Volkswagen. Seit Beginn der Affäre im Jahr 2015 hat der Konzern vor allem auf Hinhalten und Abwiegeln gesetzt. Interne Untersuchungen wurden zwar in Auftrag gegeben, aber entgegen den Versprechen nie veröffentlicht. Lange streute VW die Geschichte von einem kleinen Kreis von Ingenieuren, die an der Konzernspitze vorbei die Betrugssoftware entwickelt und vor der Führungsebene geheim gehalten hätten. Wie eine Art Omertà sei das Geheimnis in der Abteilung behandelt worden. Gegenteilige Aussagen von Entwicklern, die sich der Staatsanwaltschaft und den US-Fahndern anvertraut hatten, wurden ignoriert. So tut sich der Konzern bis heute schwer, reinen Tisch zu machen.

"Jetzt sind wir dran", hieß es

Derweil wird durch Zeugen- und Beschuldigtenaussagen immer klarer, wie detailliert im Konzern über Abgasprobleme beraten wurde - auch auf höchster Ebene. Die für Winterkorn entscheidende Phase beginnt im Frühjahr 2014; damals veröffentlicht das Forschungsinstitut ICCT eine Studie, wonach manche Autos im Straßenverkehr gut 35 mal so viel Stickoxid ausstoßen wie auf dem Prüfstand. Die Studie nennt die Marken nicht, aber bei VW weiß man, wer gemeint ist. "Jetzt sind wir dran", heißt es. Im April 2014, nach einem Krisengespräch, sagt ein Vertrauter Winterkorns, er müsse nun den " Alten" einweihen.

In der US-Anklage heißt es ergänzend, Winterkorn habe etwa am 23. Mai 2014 den Bericht des Vertrauten erhalten. Darin stehe, dass die US-Behörden nun untersuchen dürften, ob VW ein defeat device einsetze, um die Abgaswerte zu schönen; diesen Vermerk will Winterkorn aber nicht gelesen haben. Statt die US-Behörden zu unterrichten, hätten sich Winterkorn und seine Leute für die Strategie entschieden, die Software zu verheimlichen und gleichzeitig so zu tun, als wollten sie mit den staatlichen Stellen kooperieren. Bis Mitte 2015 also habe VW den Aufsehern "Lösungen" für das Abgasproblem angeboten, ohne aber den eigentlichen Grund für das Problem zu nennen - die Schummelsoftware.

Noch intensiver beschäftigt sich der Vorstandschef dann im Sommer 2015 mit dem Abgasproblem, das bei VW gern als "Diesel-Thematik" verharmlost wird. Mittlerweile herrscht im Konzern große Aufregung. Die US-Behörden weigern sich, ein neues Auto aus dem Modelljahr 2016 in den USA zuzulassen, solange die Merkwürdigkeiten bei den Abgasen nicht aufgeklärt sind. Für VW wäre das ein Desaster gewesen.

Am 27. Juli 2015 müssen Ingenieure und Manager in Wolfsburg zum Krisengespräch mit Winterkorn am berüchtigten Schadenstisch erscheinen. Ein Zeuge hat über das Treffen erzählt, er habe angesichts des Debakels mit einem Wutausbruch Winterkorns gerechnet. Der aber habe so kühl reagiert, als wisse er längst Bescheid. Er habe etwas über "diese Software" gegrummelt, nicht viel mehr.

Das könnte daran gelegen haben, dass Winterkorn am selben Tag, mutmaßlich zuvor, mit dem Juristen und Abteilungsleiter gesprochen hat. Der gab in seiner Aussage zu Protokoll, er habe Winterkorn folgendes erklärt: Sollte Volkswagen die Sache nicht von sich aus voll aufklären, würden die Amerikaner irgendwann selbst dahinterkommen. Experten würden herausarbeiten, was die Software könne. VW solle "definitiv" nicht den Weg wählen, von den US-Behörden überführt zu werden.

Eine Powerpoint-Präsentation am Schadenstisch

In der US-Anklage kommt diese Aussage nicht vor; dort wird nur eine Powerpoint-Präsentation am Schadenstisch erwähnt. Sie habe Winterkorn ein "klares Bild" davon vermittelt, dass VW die US-Behörden in die Irre führe, dazu Einzelheiten, was man den US-Aufsehern genannt oder nicht genannt habe. Zweitens habe Winterkorn erfahren, welche Konsequenzen VW drohen könnten, wenn der Schwindel auffliege. Schließlich hätten die Mitarbeiter ihrem Chef folgende Lösung vorgeschlagen: VW werde sich die Zulassung für das Modelljahr 2016 besorgen, indem es den US-Behörden neue Details über die Abgastechnik verrät, das defeat device aber verschweigen. Winterkorn, heißt es in der Anklage, habe diesen Plan gebilligt.

Dieser Plan sei in den USA zunächst umgesetzt worden: Am 5. August 2015 habe ein VW-Vertreter einem Beamten der kalifornischen Umweltbehörde bloß allgemein von Anomalien oder Unregelmäßigkeiten bei den Abgaswerten erzählt. Das dürfte Winterkorn im US-Strafverfahren besonders belasten. Am 19. August dann verriet ein VW-Angestellter den US-Behörden, dass die Abgase auf der Straße anders gereinigt würden als auf dem Prüfstand. Es war der erste Schritt in Richtung Wahrheit. Das sei gegen den ausdrücklichen Willen von Winterkorn geschehen. So sehen es jedenfalls die US-Ankläger.

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