Alternative zum Bruttoinlandsprodukt:Wie sich Glück messen lässt

Wann geht es Menschen wirklich gut? Bislang bemisst sich das Wohlergehen eines Staates am Bruttoinlandsprodukt. Doch die Aussagekraft ist begrenzt: Das BIP steigt auch durch Ölkatastrophen und Staus, vernachlässigt dabei jedoch deren negative Effekte auf die Lebensqualität. Forscher, Volkswirte und neuerdings auch Politiker suchen nach neuen Indikatoren.

Michael Kläsgen

Alternative zum Bruttoinlandsprodukt: Geht man nach dem "Happy Planet Index", leben die glücklichsten Menschen in Kolumbien. Das Bild zeigt eine Tänzerin beim Karneval in Barranquilla.

Geht man nach dem "Happy Planet Index", leben die glücklichsten Menschen in Kolumbien. Das Bild zeigt eine Tänzerin beim Karneval in Barranquilla.

(Foto: AFP)

Die Sache ist verzwickt, wahrscheinlich gibt es deshalb so viele Bonmots und Kalendersprüche. "Jeder ist seines Glückes Schmied", sagt der Volksmund. Das mag in gewissen Schranken gelten. Aber stimmt nicht ebenso, dass jeder seines Glückes Dieb ist? Dass jeder sich ein Stück weit selber im Wege steht? Und dass jeder des anderen Glückes Dieb ist?

Das muss kein böser Wille sein. In Abwandlung von "Faust" könnte man sogar sagen: Es ist der Geist, der Gutes will und Böses schafft. Gerade das 20. Jahrhundert war voller a priori beglückender Ideologien für die Massen, die jedoch für Einzelne Unheil bedeuteten.

Schon arithmetisch ist es ein Problem: Wenn alle nach dem Glück streben, kommen sich die Suchenden automatisch in die Quere. Oder wie Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper dichtete: "Ja, renne nur nach dem Glück, doch renne nicht zu sehr, denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher."

Hinzu kommt ein Definitionsproblem. Was ist eigentlich Glück? Die alten Griechen unterschieden zwischen Kairos, dem Gott des günstigen Augenblicks, und Eudämonie, ein Begriff, für den es dummerweise keine griffige Entsprechung im Deutschen gibt. Gemeint damit ist aber, durch ethisch einwandfreies Handeln im Alltag am Ende des Lebens das Ziel der "Glückseligkeit" oder, eine Nummer kleiner, des "Wohlbefindens" zu erreichen, und zwar für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft.

Viele Völker trennen sprachlich fein säuberlich, ob jemand "glücklich" ist, vielleicht sogar "überglücklich", "selig"; oder ob er nur "Glück gehabt hat", "verzaubert", "entzückt", "zufrieden" oder einstweilen "nicht unzufrieden" ist. Wobei Jean Anouilh, der französische Dramatiker, zu Recht einwirft, dass "die wahren Lebenskünstler bereits glücklich sind, wenn sie nicht unglücklich sind". Eine Trennlinie ist schwierig zu ziehen.

Wenn dies schon für jeden persönlich so ist, wie unendlich viel komplizierter muss es sein, das Glück oder "nur" das Wohlbefinden von Staaten zu messen? Um es vorwegzunehmen: Es ist unmöglich. Dennoch versuchen sich immer mehr Forscher, Volkswirte und neuerdings auch Politiker daran. Und das ist gut so. Denn der Gradmesser, der bislang international herangezogen wird, misst zwar den materiellen Zuwachs; er ist aber anerkanntermaßen unzureichend, um das subjektive Wohlbefinden des Einzelnen zu erfassen.

Das Zweischneidige am BIP, dem Bruttoinlandsprodukt, ist, dass es blind die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft addiert, ohne dabei die negativen Effekte auf die Lebensqualität zu berücksichtigen. Wer jeden Morgen im Stau steht und Benzin verbraucht, steigert zwar das BIP, fühlt sich in dem Moment aber in der Regel von Kairos vernachlässigt. Die Säuberungsarbeiten nach einer Ölkatastrophe erhöhen ebenfalls das BIP, doch zu dem Zeitpunkt hat das Öl längst auf Jahre Flora und Fauna zerstört.

Sogar die Deutsche Post versucht, das Glück zu messen

Einer der ersten Ökonomen, die wissenschaftlich fundierte Zweifel an den Wohlfahrtseffekten von BIP-Steigerungen anbrachten, war der US-Volkswirt Simon Smith Kuznets 1934. Soll heißen, die Zunft ist sich seit langem über die Mängel des BIP bewusst. Allein, sie findet keinen besseren Maßstab. Alle Alternativen überzeugten bislang nicht. Das Königreich Bhutan machte sich zwar das "Bruttosozialglück" zum Staatsziel, aber niemand käme ernsthaft auf die Idee, deswegen dorthin auszuwandern.

Und geht man nach dem "Happy Planet Index", leben die glücklichsten Menschen in Vanuatu, im Südpazifik, oder in Kolumbien. Die führende Wirtschaftsmacht der Welt, die USA, wird hingegen nur unter ferner liefen aufgeführt. Dabei hat sie das "Glücksstreben" ("pursuit of happiness") in ihrer Unabhängigkeitserklärung verankert.

Inzwischen haben so viele Organisationen - die OECD, die EU, die Vereinten Nationen, die Weltbank, einzelne Statistikbehörden - neue Berechnungsmethoden untersucht oder initiiert, dass man leicht den Überblick verlieren könnte. Der Deutsche Bundestag zog 2011 mit einer Enquete-Kommission als eine der vorerst letzten Institutionen nach. Selbst die Deutsche Post veröffentlicht inzwischen, wo ihrer Meinung nach die glücklichsten Deutschen leben.

Woher das euphorische Basteln am "Glücksindikator" kommt? Es ist von Frankreich nach Deutschland übergesprungen. Auf Initiative des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy veröffentlichte 2009 eine hochkarätige Experten-Kommission rund um den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz einen Bericht über Ergänzungsmöglichkeiten des BIP. Die "fünf Weisen" reichten mit ihren französischen Kollegen, abermals im Auftrag der Regierungen, ein Jahr später einen gemeinsamen Rapport nach. Doch weil sie nicht mit dem einen einzigen seligmachenden "Indikator", den es nicht gibt, aufwarteten, ging das Dokument unter.

Weder die Verfasser noch die Rezipienten waren damit zufrieden, nur das BIP durfte sich freuen. Es wird trotz der wachsenden Konkurrenz bis auf Weiteres ein unverzichtbarer Wegweiser für Politiker und die Öffentlichkeit bleiben. Das Glück muss einstweilen auf seine Vermessung warten. Vermutlich darf man darüber froh sein. Oder um es mit George Bernard Shaw, dem Schriftsteller, zu sagen: "Glück ein Leben lang! Niemand könnte es ertragen: Es wäre die Hölle auf Erden."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: