Alibaba:Der Forrest Gump aus China

Alibaba founder Jack Ma and co-founder and VP Joseph Tsai pose with employees as they arrive for the company's IPO at the NYSE in New York

Gründe Jack Ma (in der Mitte) in New York: Der Börsengang von Alibaba macht ihn reich

(Foto: REUTERS)

Seine Geschichte steckt voller Verrücktheiten. Nun bringt Gründer Jack Ma seinen Onlinekonzern Alibaba in New York an die Börse - und erlöst 25 Milliarden Dollar. Irre? Ja, völlig.

Von Marcel Grzanna, Nikolaus Piper, Johannes Kuhn, Christoph Giesen und Christopher Keil

Es ist der Tag des Jack Ma. Der 50-jährige Gründer des Online-Händlers Alibaba aus Hangzhou steht mit schwarzem Anzug über einem dunkelblauen Hemd ohne Krawatte in der Menge auf dem Parkett der New York Stock Exchange und blickt wie alle auf die Monitore. Gleich ist es 9.30 Uhr in New York. Über dem Saal wird dann die berühmte Glocke der NYSE scheppern und der Aktienhandel eröffnet. An diesem Tag, Jack Mas Tag, eröffnet der Handel mit dem größten Börsengang der Geschichte: Mehr als 25 Milliarden Dollar werden dabei eingespielt.

Wenn ein Unternehmen neu an die Börse geht, darf der Chef den Knopf drücken, der die Glocke, die "Opening Bell", auslöst. Ma hat die Ehre an acht Kunden von Alibaba abgetreten: fünf Frauen und drei Männer in weißen T-Shirts, darunter ein Kirschenpflücker aus dem US-Bundesstaat Washington und ein ehemaliger chinesischer Olympiateilnehmer, der inzwischen Armbänder verkauft. Als der Akt vorüber ist, liegen sie sich in den Armen.

Im Handelssaal geht es an diesem Morgen zu wie zu Zeiten, in denen der Handel noch nicht von Computern gesteuert wurde. Die Menschen stehen dicht gedrängt, weil wirklich etwas passiert: Die "Marktmacher", wie man sie nennt, also die Leute von Goldman Sachs und Barclays, beginnen, die Orderbücher abzuarbeiten. Das ist Vertrauensarbeit, und es dauert einige Zeit, bis der Eröffnungskurs feststeht.

Unterdessen gibt Ma dem Wirtschaftssender CNBC noch auf dem Parkett ein Interview: Es gehe bei dem Börsengang nicht nur um Geld, "was wir bekommen haben, ist das Vertrauen der Menschen", sagt er. Wenig später wiederholt er: "Ohne Vertrauen geht es nicht." Die Fixierung auf das Vertrauen hat Gründe: Unter Analysten an der Wall Street gibt es einige, die Alibabas Führungsstruktur für intransparent halten und Kritik geübt haben. Doch als der Eröffnungskurs steht, ist es damit vorbei: 92,70 Dollar, bei einem Ausgabepreis von 68 Dollar. Und deshalb feiert New York erst einmal die Gewinner aus China. Vor der Börse muss Ma sich, begleitet von dem chinesischen Schauspieler und Geschäftspartner Jet Li, durch ein Menschengewühl arbeiten, als sei er ein Rockstar. An der Säulenfront der Wall Street wehen die amerikanische und die chinesische Flagge, dazu ein Werbewimpel des Unternehmens. Zum Mittagessen trifft Ma Größen der amerikanischen Wirtschaft. Jeff Immelt, der Boss von General Electric, ist dabei, genauso wie Henry Kravis, Gründer des Finanzinvestors KKR. Danach wartet Bill Clinton, der Ma die gemeinnützige Organisation "Clinton Global Initiative" vorstellt.

Onlinehandel in China, das war mal nur ein Hirngespinst von Jack Ma

Dass eine Firma aus China so rasch emporkommen würde, daran war vor 17 Jahren noch nicht zu denken. Auf dem Balkon, auf dem sich am Freitag die acht Alibaba-Kunden drängen, stand im Herbst 1997 der chinesische Staatschef Jiang Zemin. Es war Jiangs erste Reise in die USA, lange hatte er sich darum bemüht. Was genau eine Börse ist, hatten ihm seine Berater vorher noch erklärt. "Guten Morgen", rief Jiang den Händlern auf Englisch zu und winkte ein wenig steif. "Ich wünsche Ihnen einen guten Handelstag."

Damals existierte Alibaba noch nicht, die Idee mit dem Onlinehandel in China war nur ein Hirngespinst von Jack Ma. Heute ist es ein Milliarden-Geschäft. Im vergangenen Jahr betrug der Gesamtwert aller Transaktionen auf den Webseiten von Alibaba 296 Milliarden Dollar, für 60 Prozent aller Paketsendungen in China ist das Unternehmen verantwortlich - und damit viel dominanter als Amazon in Deutschland oder in den USA. Knapp acht Milliarden Dollar setzt Alibaba jährlich um, und macht dabei über 3,5 Milliarden Dollar Gewinn. Das sind Margen, von denen die Konkurrenten weit entfernt sind.

Ein TV-Team ist in Mas Wohnung, als China Internet bekommt

Dass sich im Internet viel Geld verdienen lassen würde, diese Vision hatte der ehemalige Englischlehrer Jack Ma schon, bevor Präsident Jiang vom Balkon der Börse winkte. Ma hatte das Internet 1995 während einer Reise durch die USA kennengelernt. Bei Freunden in Seattle tippte er die Worte "Beer" und "China" in eine Suchmaschine. Es gab keine Treffer. Zurück in China begann er, sein Geschäftsmodell aufzubauen. Er besuchte Unternehmen, sammelte Informationen und erstellte "Gelbe Seiten" für China. Die Daten schickte er in die USA, dort wurde sein Verzeichnis programmiert und ins Internet gestellt.

Wenige Monate später lud Ma Freunde in seine Wohnung in Hangzhou ein, auch ein Fernsehteam kam. Es war der 8. August 1995, der Tag, an dem Chinas Telekom die Volksrepublik an das weltweite Netz anschloss. Die kleine Gruppe starrte auf einen Bildschirm. Erst nach Stunden war Mas Homepage geladen, Chinas erste kommerzielle Webseite. Sie wurde ein Flop. Kaum jemand interessierte sich für das Angebot, bald verlor Ma ganz die Kontrolle, die Lokalregierung übernahm seine Seite.

Kleidung, Obst, Spielzeug - einfach alles soll verkauft werden

Doch Ma ließ sich nicht unterkriegen. Er lieh sich 60 000 Dollar und bat seine Freunde 1999 erneut zu sich nach Hause, um sein neuestes Projekt vorzustellen: eine Webseite, auf der sich Käufer und Verkäufer treffen. Chinesische Produzenten sollten sich ihre Kunden in Übersee selbst suchen. Seine Idee bestand darin, die Zwischenhändler auszuschalten. Ob Kleidung, Obst, Spielzeug - einfach alles sollte gehandelt werden, immer in großen Mengen, die gängige Einheit war der Schiffscontainer. Als Firmenname überlegte sich Ma: Alibaba. Warum? Weil "jeder die Geschichte von Alibaba kennt. Er ist ein junger Mann, der bereit ist, anderen zu helfen", sagte er. Seine Wohnung wurde zur Unternehmenszentrale. Heute ist sie Wallfahrtsort für die Angestellten. Sie kommen vorbei, um sich inspirieren zu lassen. 150 Quadratmeter, vier Schlafzimmer, in einem vierstöckigen Wohnhaus. Der Quadratmeter kostet inzwischen 25 000 Yuan, Ma hatte 3000 Yuan gezahlt. Die Wohnung befindet sich im zweiten Stock. Auf der dunkelbraunen Haustür steht die Nummer: 202. Niemand öffnet.

Ein Mann von der Hausverwaltung erzählt, dass eine Putzfrau regelmäßig vorbeikäme und es in der Wohnung so aussehe wie früher - bevor Alibaba in ein größeres Büro umzog. Damals nutzten Ma und seine Leute das Appartement zum Schlafen und Arbeiten, meistens aßen sie Nudeln aus der Tüte. Wenige Monate nachdem Ma Alibaba gegründet hatte, stieg die japanische Investmentgesellschaft Softbank mit ein paar Millionen ein, und die Handelsplattform wurde ein Erfolg. Ma entwickelte seine Firma ständig weiter: Nicht nur Großhändler sollten Kunden werden, sondern alle chinesischen Konsumenten. So entstand 2003 Taobao, Chinas Ebay, das so viel mehr kann und ist als das Original aus den USA und innerhalb weniger Jahre Marktführer wurde. Das gelang vor allem deshalb, weil Ma sein eigenes Online-Bezahlsystem einführte: Alipay. Wer bei Ebay handelt, muss darauf vertrauen können, dass der Verkäufer die ersteigerte Ware schickt und der Käufer zahlt. Dieses Vertrauen haben viele Chinesen nicht, zu oft wurden sie enttäuscht. Bei Alipay wird das Geld erst dann weitergereicht, wenn die Ware tatsächlich beim Kunden angekommen ist; so lange bleibt das Geld bei Alibaba. Derzeit ruhen Milliarden auf den Konten. Auch daraus schlägt der Konzern Profit, ein eigener Investmentarm legt das Geld für die Kunden an.

"Ich bewundere Jack Ma"

Einen Tag vor dem Börsengange regnet es in Hangzhou. Noch immer ist die Zentrale des Unternehmens in Mas Heimatstadt angesiedelt, mit dem Schnellzug ist man in weniger als einer Stunde in Shanghai. Ein Mann Anfang 40 hastet zu seinem Auto. Er dürfe eigentlich nichts sagen. Er sagt trotzdem: "Ja, natürlich sind wir alle sehr stolz auf den Börsengang." Dann fährt er davon. Wenig später kommt eine junge Frau. Sie hatte ein Bewerbungsgespräch. Sie sagt: "Ich bewundere Jack Ma. Er ist eine Legende, und er inspiriert mich. Deswegen bewerbe ich mich bei Alibaba. Ich liebe seine Art, die Firma zu führen. Er bringt kluge Leute zusammen." Das Hauptquartier von Alibaba ist einerseits angelegt wie ein moderner Campus, der andererseits wie eine Geheimdienstzentrale bewacht wird. In Größe und soziale Architektur ist der Komplex auf einer Höhe mit den Arbeitswelten von Apple, Google oder Yahoo im Hinterland San Franciscos. Weil die Gebäude an einem Flussdelta liegen, ließ Jack Ma einen Park mit Teich und Holzbrücke für Wanderungen zwischen den Arbeitsstunden anlegen. Das kultivierte Freizeitgelände und die überwiegend klaren, manchmal geschwungenen Linien der Glas- und Stahlfassaden prägen das äußere Erscheinungsbild.

Auf einer Führung vor zwei Jahren beeindruckten vor allem eine Statue und der Big Data Room. Ma persönlich, betonte eine Sprecherin, habe die überlebensgroße Skulptur aus dunklem Stein besorgt und angeordnet, sie auf einem mit Gras bepflanzten Innenhof aufzustellen. Die Statue zeigt einen nackten, muskulösen Krieger. Im Big Data Room zeigt eine fast zehn Meter breite und zwei Meter hohe digitale Schaltfläche den gesamten Warenstrom Alibabas. Oft fließen die Zahlenkolonnen in Echtzeit in Diagramme, geografische Heatmaps leuchten das Käuferverhalten in China aus.

Acht Prozent hält Ma noch am Unternehmen, er führt im Hintergrund

Auf dem Campus gibt es ein Fitnessstudio, unterschiedliche Cafés und Kantinen, einen Geschenkeshop und einen Alibaba-Floristen, Poolbillardtische und Tischtennisplatten. Es gibt kunstvoll gestaltete Kieswege, Pflanzen in orangenen Kübeln, luftige Plätze. Auf dem Marmorboden in einer Lobby, der stündlich von Reinigungskräften poliert wird, stand die Replik eines Lamborghini. Auch das Auto wurde auf Taobao verkauft. Es leuchtete in Orange. Das ist die Alibaba-Farbe. Es gibt orange Dachkonstruktionen, Wände sind orange bemalt, Schreibtische haben orange Zierleisten, auch die Rahmen besonderer Bilder aus der Firmengeschichte sind orange.

Beim Gang über die Führungsetage zu einem der vielen Konferenzräume sagte die Sprecherin, Ma sei nicht mehr ganz so häufig in seinem Büro. Etwa acht Prozent hält er noch am Unternehmen, den Posten als Vorstandschef hat er 2013 abgegeben, doch noch immer führt er im Hintergrund. Der Börsengang wird ihn wohl zu Chinas reichstem Mann machen.

Einer der großen Zufälle in der Geschichte der Internet-Branche

Auch die beiden Großaktionäre, der japanische Investor Softbank und der Internetkonzern Yahoo, gehören zu den Börsensiegern. Yahoo hatte sich 2005 für eine Milliarde Dollar eingekauft. Mit dem ersten Handelstag stieg der Wert die Anteile auf über 40 Milliarden Dollar. Die Partnerschaft von Alibaba und Yahoo basiert vor allem auf einer Männerfreundschaft. 1997 reiste der in Taiwan geborene Yahoo-Gründer Jerry Yang nach China. Sein Unternehmen war gerade an der Börse notiert worden. Wer im noch jungen World Wide Web nicht die Orientierung verlieren wollte, kam an Yangs Webverzeichnis nicht vorbei. Dass ihn ausgerechnet der zunächst gescheiterte IT-Unternehmer Ma am Flughafen abholte, der zwischenzeitlich für das chinesische Technologie-Ministerium jobbte, dürfte einer der großen Zufälle in der Geschichte der Internet-Branche sein.

Details der Begegnung sind kaum überliefert, allerdings soll Ma als persönlicher Stadtführer lange Spaziergänge mit dem vier Jahre jüngeren Yang unternommen haben. Es gibt ein Foto, das Ma und Yang gemeinsam lächelnd auf der chinesischen Mauer zeigt. Yang hatte den Aufstieg seines neuen Bekannten nach dem Besuch verfolgt und Yahoo sehr chinafreundlich positioniert. Ärger gab es, als Yahoo 2004 den chinesischen Behörden die Daten des Journalisten Shi Tao preisgab, der Yahoos E-Mail-Dienst genutzt hatte, um mit Menschenrechtsorganisationen in den Vereinigten Staaten zu kommunizieren.

Shi sitzt noch immer im Gefängnis. Fast acht Jahre nach ihrem ersten Treffen schlug Yang schließlich zu: Während eines Golfturniers im malerischen Pebble Beach an der kalifornischen Küste überredete er Ma, Yahoo 40 Prozent an Alibaba zu überlassen. Für das chinesische Unternehmen war das auch eine Lebensversicherung gegen die Konkurrenten Ebay und Amazon. "Yahoo schluckt Alibaba", interpretierten westliche Medien am Tag der Verkündung den Deal. "Alibaba schluckt Yahoo", schrieben die chinesischen. Nichts von beidem war richtig: Beide Firmen agierten unabhängig voneinander, im Laufe der Zeit sogar gegeneinander. 2010 zum Beispiel, als Yahoo ebenso wie Google Pekings Internet-Zensur kritisierte, wies Alibaba dies als "rücksichtslos" zurück.

Auch die Geschäfte der beiden Firmen haben sich in die entgegengesetzte Richtung entwickelt: Während der chinesische Konzern seine Marktplatz-Idee ausbaute, verloren die Kalifornier mit ihrem auf Werbung basierenden Geschäftsmodell immer mehr an Boden, vor allem an die Konkurrenz von Google und später Facebook.

Heute sprechen Yahoo-Mitarbeiter nur selten über Yang. Er trug als Vorstandschef und bis 2012 im Aufsichtsrat maßgeblich zum Niedergang bei. Anders als Ma fehle ihm das Talent, frühzeitige Trends zu erkennen, heißt es. Yang widmet sich inzwischen dem Golfspiel und als Partner eines Investment-Unternehmens der Entdeckung neuer Start-ups.

Im Herbst wird er aber einen weiteren Nebenjob antreten: Er kehrt in den erweiterten Aufsichtsrat von Alibaba zurück - zurück zu seinem Kumpel Jack Ma.

Warum also ist Alibaba so außergewöhnlich erfolgreich? Während seines CNBC-Interviews am ersten Börsentag sagt Ma: Sein Held sei immer "Forrest Gump" gewesen. In dem Erfolgsfilm von 1994 spielt Tom Hanks einen unbedarften jungen Mann aus Alabama, der durch die amerikanischen Katastrophen und Verrücktheiten der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre stolpert. Immer hat er Glück, immer setzt er Trends, ohne dass er ganz versteht, warum. Ist dies das Geheimnis hinter Alibaba? Der Gründer jedenfalls scheint zu glauben, dass alles immer gut ausgeht.

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