Abschlagsfreie Rente für langjährig Versicherte:Kritiker warnen vor "Frühverrentungsorgie"

Mützenträger

Von der Rente mit 63 könnte jeder zweite Mann profitieren, aber nur jede siebte Frau.

(Foto: dpa)

Die meisten Bürger finden die Rente nach 45 Beitragsjahren richtig - doch Kritiker schlagen Alarm und verweisen auf Erfahrungen aus den Neunzigerjahren. Von der geplanten Rente mit 63 für langjährig Versicherte könnte jeder zweite Mann profitieren, aber nur jede siebte Frau.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Wenn es nach der Mehrheit der Bürger geht, macht die neue große Koalition in Sachen Rente alles richtig. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung findet es laut Umfragen gut, wenn Arbeitnehmer mit 45 Beitragsjahren bald mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen können. Die Wirtschaftsverbände schlagen dagegen jetzt Alarm: Sie fürchten eine neue Welle der Frühverrentung in Deutschland, vor allem, wenn die 45 Beitragsjahre in den neuen Gesetzen großzügig ausgelegt werden.

"Werden dabei auch noch Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet, wird ein ganz weites Tor für neue Frühverrentungsmodelle geschaffen. Dann wäre es sogar möglich, bereits mit 61 Jahren mit der Arbeit aufzuhören, um dann nach dem Arbeitslosengeldbezug vorzeitig in die abschlagsfreie Rente zu gehen", heißt es bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) , ist besorgt. Er sieht bei der nächsten Rezession die Gefahr, dass Unternehmen Mitarbeiter in die Frührente schicken, statt sie über Kurzarbeit im Betrieb zu halten wie in der Finanzkrise 2009.

Lutz Goebel, Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, warnt ebenfalls vor einer "Frühverrentungsorgie" wie in den Neunzigerjahren. "Da Zeiten der Arbeitslosigkeit bei der Rente mit 63 einfließen sollen, werden falsche Anreize auf Kosten der Beitragszahler gesetzt. Älteren Arbeitnehmern werden dann schon mit 61 oder 62 Abfindungen gezahlt, die genau der Differenz zwischen Arbeitslosengeld und letztem Gehalt entsprechen. Arbeitslosengeld und höhere Rente zahlen dann immer alle Beitragszahler", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Goebel hält die Rente mit 63 für einen Irrweg: "Das wird vor allem gut ausgebildete Facharbeiter zu früh aus dem Arbeitsmarkt rausnehmen." Das könne sich Deutschland wegen des Fachkräftemangels aber nicht leisten.

Streit um Anrechnung von Zeiten der Arbeitslosigkeit

Mitte der Neunzigerjahre hatten vor allem große Unternehmen Personal über Frühverrentungsprogramme abgebaut. Dabei wurden Hunderttausende Mitarbeiter von 55 und mehr Jahren entlassen. Sie kassierten häufig eine Abfindung, bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld plus eine Unterstützung vom früheren Arbeitgeber und konnten dann bereits mit 60 Jahren vorzeitig in die Rente ohne Abschläge rutschen. Opfer waren die Sozialkassen. Der Rentenversicherung entgingen Beiträge, die damalige Bundesanstalt für Arbeit musste das Arbeitslosengeld zahlen. Die Kosten beliefen sich auf mehr als sieben Milliarden Euro pro Jahr.

Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart: "Langjährig Versicherte, die durch 45 Beitragsjahre (einschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit) ihren Beitrag zur Stabilisierung der Rentenversicherung erbracht haben, können ab dem 1. Juli 2014 mit dem vollendeten 63. Lebensjahr abschlagsfrei in Rente gehen." Inwieweit dabei Zeiten der Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind, ist umstritten. Der Chef der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Klaus Barthel, pocht darauf, dies unbegrenzt zu tun. CDU-Rentenexperte Peter Weiß lehnt dies ab. Die CSU-Abgeordneten beschlossen in Kreuth ebenfalls, die Anrechnung auf fünf Jahre zu begrenzen.

Jeder zweite Mann, nur jede siebte Frau

Es spricht daher viel dafür, dass die Anrechnungszeit für Phasen der Arbeitslosigkeit auf fünf Jahre begrenzt wird. Kanzlerin Angela Merkel hatte bereits gesagt: "Wir nehmen bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit hinein." In früheren Koalitionspapieren war von fünf Jahren die Rede. Auch bei den Schätzungen der Kosten von langfristig vier bis fünf Milliarden Euro pro Jahr wurde eine durchschnittliche Arbeitslosenzeit von fünf Jahren angenommen.

Würde man sämtliche Zeiten der Arbeitslosigkeit mitberücksichtigen, könnte in Zukunft jeder zweite Mann von der Rente mit 63 profitieren. Zumindest erfüllte jeder zweite männliche Neurentner im Jahr 2011 zwischen 63 und 65 Jahren die erforderlichen Voraussetzungen. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Markus Kurth hervor.

Bei den Frauen hätte nur etwa jede siebte etwas davon. Herbert Rische, Präsident der Deutschen Rentenversicherung, kritisiert, dass die Rente mit 63 vor allem Versicherten zugute käme, "die ohnehin über relativ hohe Rentenansprüche verfügen". Grünen-Politiker Kurth sagt: Hier werde der Facharbeiteradel, der ohnehin schon bessergestellt sei, zusätzlich belohnt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: