Abschied:AB 6210

Collage

Szenen eines Abschieds (von links im Uhrzeigersinn): Ein Mitglied der Crew schwenkt auf dem Vorfeld in München ein Banner aus dem Cockpit. Hunderte empfangen die Maschine in Berlin. Eine Flugbegleiterin schenkt noch einmal ein. Auch zum Schluss gibt es Schokoherzen.

(Foto: dpa)

Wer will, darf beim Einstieg in München die Maschinentür bekritzeln. Mit mehr als einer Stunde Verspätung kommt die Maschine dann. Auf der Besucher-Terrasse und auf dem Rollfeld harren Hunderte aus.

Von Luisa Seeling

Spätestens beim Boarding wird klar, Flug AB 6210 wird anders. "Aufs Gruppen-Boarding wird heute verzichtet", teilt die Dame am Schalter mit. "Das sind Auflösungserscheinungen", raunt ein älterer Mann seiner Frau zu. Dabei haben sich vor Gate A16 längst Gruppen gebildet, sie heißen nur nicht A, B und C, sondern: Presse, Air Berliner und Menschen, die einfach nur dabei sein wollen, wenn an diesem 27. Oktober der letzte, der wirklich allerletzte Air-Berlin-Flug abhebt. Geplante Abflugszeit: 21.35 Uhr.

Der letzte Flug ist eine Mischung aus Party und Wehmut. Offiziell hatte der Konzern keine Abschiedsfeier geplant, "das ist ja auch nicht wirklich ein Grund zum Feiern", befand ein Unternehmenssprecher. An diesem Abend sehen das viele anders. Anne Facklam zum Beispiel, 28 Jahre alt, gehörte zum Bodenpersonal: "Das ist schon sehr traurig alles", sagt sie, "aber es ist jetzt eben so. Da können wir diesen Tag genauso gut genießen." Facklam kann es auch deshalb, weil sie anders als viele ihrer Kollegen schon einen neuen Job hat. Nicht bei einer anderen Fluggesellschaft, sondern in der Telekommunikationsfirma. "Ich könnte bei keiner anderen Airline arbeiten, es gibt ihn wirklich, den Spirit, wir sind eine große Familie", sagt sie.

Joachim Hunold sagt, er sei traurig, es gehe für ihn ein Lebenswerk zu Ende

Joachim Hunold, 68, läuft vorbei. Er gründete 1991 die deutsche Air Berlin und übernahm das Geschäft der 1978 gegründeten gleichnamigen US-Gesellschaft. Er führte das Unternehmen an die Börse und war lange - von 1991 bis 2011 - ihr Chef. Es sei "eine tiefe Traurigkeit" in ihm, sagt er: "Ein Lebenswerk geht zu Ende." Er umarmt Kollegen, später nimmt er in der ersten Reihe am Gang Platz. Es gibt auch Buhrufe und Pfiffe für den Ehemaligen. Schon in den Jahren unter Hunolds Führung häufte die Airline riesige Schuldenberge an.

Kurz vor halb zehn, das Boarding beginnt. Anne Facklam und ihr Mann verteilen den Text eines Air-Berlin-Liedes, das mit den Zeilen "Flugzeuge im Bauch, Kerosin im Blut" beginnt. Flughafenmitarbeiter säumen die Gangway und klatschen, jemand verteilt Filzstifte; wer will, darf die Maschinentür bekritzeln, als wäre sie ein Gipsbein: "Oben bleiben", steht da, und: "Im Herzen fliegst du weiter." Ein Mann mit Warnweste und Air-Berlin-Button überreicht dem Crew-Chef eine Schachtel Merci-Schokolade. "Junge Junge", sagt der, "das wird noch richtig emotional hier." Freitagabendflüge sind Routineflüge mit genervten Passagieren, die versuchen, ihr Handgepäck irgendwie zu verstauen. An diesem Abend kommt das Gefühl dazu, einem historischen Moment beizuwohnen.

Chef-Steward Stefan Berg erzählt per Bordlautsprecher, dass er seit 25 Jahren bei Air Berlin arbeitet. Er gerät ins Schwärmen: "Wir sind soooo glücklich, diesen Flug machen zu dürfen." Irgendwann wird es Flugkapitän David McCaleb im Cockpit zu bunt: "Wir sind sehr glücklich, aber bitte denk an den Cross-Check", unterbricht er seine Mannschaft per Durchsage.

Berg wird vor der Landung einen Abschiedsgruß der Airline verlesen, er wird von "Gänsehaut" sprechen; er wird gegen Mitternacht, als sich die Türen der Maschine öffnen, auf der Treppe stehen und eine Fahne schwenken, während unten Hunderte Flughafen- und Air-Berlin-Mitarbeiter applaudieren. Es ist eine große Show, inklusive Wasserdusche der Flughafenfeuerwehr und Festbeleuchtung auf dem Rollfeld. Auch das Air-Berlin-Lied wird in der Maschine noch vor der Landung angestimmt, wenn auch etwas verschämt - lediglich Reihe 10 schlägt sich wacker, dort kreist eine Flasche Kräuterschnaps.

Der schönste, auf stille Art anrührende Moment aber ist der Rundflug über Berlin - mit Genehmigung, wie die Crew versichert. Mehrere Schleifen fliegt der Airbus A320 über der Stadt, die auf dem Flugradar wie ein großes Herz aussehen sollen - so wie die Schokoherzen, die Air Berlin seinen Gästen beim Ausstieg aus dem Flieger reichte. Auf etwa 1000 Meter sinkt die Maschine, schweigend blicken die Passagiere aus den Fenstern, während Berg nicht nur auf die Sehenswürdigkeiten aufmerksam macht, sondern mit bemerkenswerter Gründlichkeit auch auf weniger glamouröse Stadtteile wie Rudow und Treptow.

Gegen Mitternacht, mit mehr als einer Stunde Verspätung, steuert die Maschine Parkposition 52 an. Auf der BesucherTerrasse harren noch immer Hunderte Menschen aus. Auch für die Berliner ist es ein bitterer Abend. Sie haben immer noch keinen neuen Flughafen und künftig auch keine Fluggesellschaft mehr, die den Namen ihrer Stadt in die Welt trägt.

Die Passagiere schälen sich aus den Sitzen, einige lassen schnell noch die Original-Air-Berlin-Kotztüten in ihren Taschen verschwinden. Sie stolpern hinaus, laufen durch ein Meer von Menschen mit gelben Sicherheitswesten und klatschen Air-Berlin-Mitarbeiter ab, als seien sie Mitglieder im selben Sportklub.

Als die ersten Passagiere durch die Schiebetür in den Ankunftsbereich treten, ist es halb eins, Flug AB 6210 ist vorbei. Und eine Ära. Ein älterer Herr drückt jedem Ankömmling einen Zettel in die Hand mit einem Gedicht: "Wir liebten dich, warst unser Stern. Wohin auch unsre Wolken ziehn... Danke - danke, Air Berlin." Dahinter verteilt jemand Flyer: "Verschenken Sie kein Geld! Sichern Sie sich ihre Ansprüche gegen Air Berlin!" Das ganze Drama einer Airline auf zwei Zetteln.

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