Abschiebung psychisch Kranker:"Es ist immer noch üblich, Patienten sozial zu isolieren"

Unterbringung psychisch kranker Straftäter

Schaden durch Ausgrenzung: Bett zum Fixieren in einer forensisch-psychiatrischen Klinik

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Kaum etwas fürchten Menschen so sehr, wie nicht mehr gebraucht zu werden. Macht der Kapitalismus uns zum Wegwerfartikel? Ein Gespräch mit Klaus Dörner, einem großen Reformer der Psychiatrie.

Von Hans von der Hagen

Klaus Dörner, 81, war 16 Jahre lang ärztlicher Leiter einer Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie und lehrte als Professor an der Universität Witten/Herdecke Psychiatrie. Er gilt als einer der führenden Köpfe der Reformbewegung in seinem Fachbereich. Seit Langem wirbt er für neue Formen der Versorgung psychisch kranker und alter Menschen.

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SZ: Herr Dörner, hat der Kapitalismus den Umgang mit den Menschen in der Medizin verändert?

Klaus Dörner: Tatsächlich gab es im europäischen und amerikanischen Kulturkreis mit Beginn der Industrie-Epoche, also ungefähr Anfang des 18. Jahrhunderts, eine entscheidende Wende. Man begann, Menschen nach ihrem Leistungswert zu taxieren. Nur diejenigen, die nicht durchs Raster fielen, waren von Interesse.

Was geschah mit den anderen?

In jener Zeit entstand auch die Psychiatrie - die gab es vor der Industralisierung nicht. Von Anfang an bestand das Versorgungssystem für psychisch Kranke darin, dass man sie in möglichst großen Institutionen aufbewahrt hat, möglichst abgelegen und aller zwischenmenschlichen Bezüge beraubt. Sie wurden gesellschaftlich unsichtbar gemacht. Fast zwei Jahrhunderte lang feierte man das als Fortschritt. Man sprach nicht von psychisch kranken Menschen, sondern von Krankheiten, die es zu besiegen galt. Ebenso wie die Industrie effizienter wurde, glaubte man auch, die Medizin effizienter zu machen, und träumte von einer leidensfreien Gesellschaft.

Warum blieb das ein Traum?

Die Ausgrenzung schädigte die Menschen mehr, als es die ursprüngliche Erkrankung oder Behinderung getan hatte. Aber man glaubte, dass es richtig sei, Menschen ohne Leistungs- oder Gebrauchswert unsichtbar zu machen. Es war eine Form von sozialer Euthanasie, die die Nazis später um die biologische Euthanasie verschärften. Übrigens nicht nur die Nazis - schon im Ersten Weltkrieg hat man bei Menschen, die in Anstalten oder Gefängnissen lebten, die Kalorien so lange reduziert, bis die Unterversorgung zu einer erhöhten Sterblichkeit führte. 70 000 Menschen sind dadurch mehr oder weniger aktiv getötet worden.

Und heute?

Es ist immer noch üblich, Patienten sozial zu isolieren und sie als Menschen zu demontieren. Und das, obwohl es inzwischen hinreichend Beispiele gibt, dass man sie gut fördern könnte. Exklusion ist noch immer die Regel - Inklusion die Ausnahme. Viele könnten ganz normal in der Gesellschaft leben und es wäre nicht einmal teurer. Im Gegenteil: Man bräuchte das gesamte Heimsystem und die großen Anstalten nicht.

Was macht Sie da so sicher?

Wir haben in der Westfälischen Klinik in Gütersloh erreicht, dass mehr als 400 unserer Langzeitpatienten wieder alleine leben und arbeiten konnten. Die Basis dafür war, dass wir nicht nur die Krankheit der Menschen für dokumentationswürdig befanden, sondern ihre gesamte Lebensgeschichte. Das Zweite war, dass wir sie aus ihrer Isolation herausgeholt und ihnen ihre familiäre Zugehörigkeit zurückgegeben haben, die teilweise 20, 30 oder 50 Jahre lang von uns "Profis" verhindert wurde.

Wie wichtig war ihnen die Arbeit?

Ihr kam eine Schlüsselrolle zu. Die Patienten sagten zwar, dass sie ja jetzt schon älter seien und nicht mehr so leistungsfähig. Aber auch dass sie das Bedürfnis hätten, etwas zu geben und nicht nur Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir ermöglichten es ihnen, ein bis drei Stunden am Tag zu arbeiten.

Gegenbewegung zu den Kräften des Marktes

Klaus Dörner Kapitalismus-Recherche

"Die Gesellschaft als Ganzes geschädigt" - Psychiatrieprofessor Klaus Dörner (Archivfoto)

(Foto: lkn)

Wie haben sich die Patienten verändert?

Sie waren wie verwandelt. Glücklicher oder zumindest ausgefüllter als zuvor. Natürlich gab es immer wieder Rückfälle und die Patienten mussten wieder in die Klinik - aber ausnahmslos vorübergehend. Die Arbeit half den Menschen, wieder alleine zurechtzukommen. Es ging ihnen besser, sie fühlten sich weniger krank. Sie haben uns gewissermaßen dazu erzogen, unsere Ansichten zu revidieren.

Was haben die Fachkollegen gesagt?

Bei ihnen sind diese Maßnahmen auf brutalen Widerstand gestoßen. Aber Widerstand gab auch bei den Kostenträgern, die eigentlich davon profitiert hätten. Da habe ich gelernt, wie machtvoll Traditionen dafür sorgen, falsche Zustände aufrechtzuhalten.

Und die Arbeitgeberfirmen haben mitgespielt?

Einerseits haben wir selbst welche gegründet, bis heute existiert zum Beispiel die Firma Dalke in Gütersloh, aber auch Unternehmen wie Miele haben mitgemacht. Zuweilen sind wir aber auch gescheitert bei Firmen, mit denen wir gerne zusammengearbeitet hätten. Da wollte die Mitarbeitervertretung beispielsweise nicht, dass diese angeblich so komischen Leute auch in der Kantine essen gehen.

Aber sonst bewerten Sie das Experiment positiv - Arbeiten und Nützlichsein haben also eine enorme Bedeutung für die Menschen?

Darum gibt es meiner Ansicht nach auch dieses große Interesse an Bürgerschaftsinitiativen und Nachbarschaftsbewegungen. In der Hospizbewegung beispielsweise engagieren sich mittlerweile immerhin 80 000 Menschen, ohne Geld dafür zu bekommen.

Weil der Kapitalismus dazu neigt, auch das Private durchzuökonomisieren?

Ich glaube, dass wir seit 1980 - seitdem gibt es empirisch nachweisbar eine wachsende Zahl von Menschen, die sich für andere Menschen engagieren - einen Epochenumbruch haben. Vielleicht ist es eine Gegenbewegung, weil zu lange die Kräfte des Marktes hochgehalten wurden. Wettwerb als solcher ist ja nicht verkehrt. Aber er muss in Balance mit einem anderen Wert sein, den man als Solidarität bezeichnen könnte. Im Industriezeitalter fehlte das Gegengewicht, in den vergangenen 150 bis 180 Jahren war jeder seines Glückes Schmied. Das hat die Gesellschaft als Ganzes geschädigt.

Wie halten Sie es selbst mit der Arbeit? Sie sind 81 Jahre alt.

Ich bin mittlerweile Reisender in Sachen Bürgerarbeit und oft in den neuen Bundesländern unterwegs. Dort muss man viele Dörfer quasi zumachen, weil nur noch ein paar Alte dort leben und sich die Infrastruktur nicht mehr rechnet. Aber auch das kann eine Chance sein, wenn man anfängt, ambulante Wohnpflegegruppen zu gründen, anstatt die Leute in Heime abzuschieben. Daneben kommen die Gastfamilien wieder in Mode, wo Leute gegen Bezahlung jemanden mit Behinderung oder einen Demenzkranken aufnehmen und pflegen.

Warum tun die Menschen das?

Das frage ich auch oft: Ihr opfert eure freie Zeit, um euch mit alten Menschen abzugeben, die oft auch noch undankbar sind. Die einen sagen: 'Wissen wir auch nicht.' Die anderen sagen: 'Wir wollen keine besseren Menschen sein. Was wir wollen, ist, dass man nicht mehr zwischen egoistisch oder altruistisch unterscheiden kann.' Und die dritte Antwort ist: 'Ich brauche das für meine Gesundheit.' Früher hat man geglaubt, man werde durch Überlastung krank. Aber wir haben inzwischen gesehen, dass man auch durch Unterlastung krank werden kann. Gesund ist man, wenn man ausgelastet ist.

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