Abrechnungsbetrug:Den Schaden hat der Kunde

Arztpraxis

Bald könnte es wieder mehr Arztpraxen in Bayern geben.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Machen Ärzte Patienten auf dem Papier kränker, kann das verheerende Folgen haben.

Von Kim Björn Becker und Anne-Christin Gröger, München/Köln

Als die Dokumente eintrafen, traute die Ärztin ihren Augen nicht. Weil sie eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen wollte, ließ sie sich von ihrer Krankenkasse alle Unterlagen zu ihren bisherigen Diagnosen schicken - um gut vorbereitet zu sein, wenn die Versicherung sie darum bittet, möglichst präzise alle Vorerkrankungen anzugeben. Die Ärztin wusste, dass es ein Problem geben könnte, wenn sie die Versicherung eines Tages in Anspruch nehmen muss und man ihr vorhalten könnte, sie hätte beim Abschluss unvollständige Angaben gemacht. Als die Medizinerin ihre eigene Patientenakte durchsah, stieß sie auf zahlreiche Diagnosen zu Krankheiten, an denen sie niemals gelitten hat - darunter ein angeblicher Schaden am Knie, eine vermeintliche Schlafapnoe sowie ein ihr bislang unbekannter Befund an der Brust, ausgestellt von einer Gynäkologin.

"Erschreckend" seien die Folgen der Manipulation. Sie treffen die Versicherten

Bis vor Kurzem hätten viele dahinter wohl eine zufällige Häufung von Fehlern vermutet, unter Zeitdruck könnten Ärzte und Sprechstundenhilfen schließlich versehentlich die falschen Diagnose-Codes vermerkt haben. Doch seit einiger Zeit drängt sich da ein Verdacht auf: Die beteiligten Mediziner könnten die falschen Diagnosen auch absichtlich notiert haben. Dann hätten sie, zusammen mit den Krankenkassen, davon profitiert, dass sie ihre Patienten auf dem Papier kränker machen, als diese sind.

Es gebe einen "Wettbewerb zwischen den Kassen", wer es schaffe, "die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren", sagte Jens Baas, der Chef der Techniker-Krankenkasse, vor etwa einem Monat in einem Zeitungsinterview. Denn dann gebe es für die Kasse unter Umständen mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds. Einen Teil davon würden wiederum die Ärzte als Honorar für ihre Bemühungen bekommen.

Der Fall der Medizinerin, die bei der Recherche für ihre Berufsunfähigkeitsversicherung auf eine offenkundig mehrfach fehlerhafte Krankenakte stieß, legt den Verdacht nahe, dass der mutmaßliche Abrechnungsbetrug von Kassen und Ärzten sehr weitreichende Folgen für die Versicherten haben kann. So könnten manipulierte Unterlagen dazu führen, dass Patienten für ihre Versicherung mehr Prämien bezahlen müssen, weil sie auf dem Papier ein höheres Krankheitsrisiko haben. Oder, dass sie im Leistungsfall leer ausgehen, da sie plötzlich im Verdacht stehen, bei der Gesundheitsprüfung unwahre Angaben gemacht zu haben. Denn die jeweilige Patientenakte ist häufig die Grundlage für die Entscheidung eines Versicherers, ob er eine Leistung zahlt oder sie ablehnt. Das gilt gerade bei Verträgen, in denen die Gesundheit eines Kunden eine wichtige Rolle spielt. Bei der Berufsunfähigkeitsversicherung ist die Rente so schlimmstenfalls komplett in Gefahr, bei der Risikolebensversicherung können sogar ganze Familien ohne Absicherung zurückbleiben, wenn der Hauptverdiener stirbt und der Versicherer wegen vermeintlich falscher Angaben nicht zahlen will.

Wenn man einen Unfall hat, beruft sich die Haftpflichtversicherung vielleicht auf die Dokumente

"Erschreckend" nennt Axel Kleinlein, der Chef des Bunds der Versicherten, die möglichen Folgen der Manipulationen für die Verbraucher. Vieles spreche dafür, dass Kassen und Ärzte sich dabei "auf dem Rücken der Versicherten bereichern", sagt Kleinlein. Er rät Versicherten, die eine Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen wollen, dass sie sich vorher von ihrer Krankenkasse alle Behandlungsunterlagen zuschicken lassen.

Nach derzeitiger Rechtslage haben Kassenpatienten den Anspruch, Belege über alle erbrachten Leistungen zu erhalten, die bis zu 18 Monate zurückliegen. Der Osnabrücker Versicherungsmakler Matthias Helberg schätzt, dass inzwischen jeder fünfte seiner Mandanten, der seine Akten nochmals prüft oder prüfen lässt, von Unregelmäßigkeiten erfahren hat. Experten raten Betroffenen dazu, bei fehlerhaften Angaben zunächst den jeweiligen Arzt anzusprechen - mancher Fehler lässt sich dann womöglich rasch korrigieren. Viel Arbeit macht das den Patienten jedoch allemal.

Auch bei den Verbraucherzentralen sind die möglichen Folgen der Manipulationen schon ein Thema. "Aus unserer täglichen Beratung kennen wir Fälle, in denen sich die Versicherten gegen den Vorwurf der vorvertraglichen Anzeigepflicht zur Wehr setzen müssen, da der jeweilige Arzt aus Abrechnungszwecken eine schlimmere Diagnose eingetragen hat", sagt Rita Reichard von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Da werde aus kurzzeitigen Verdauungsproblemen schnell ein Reizdarm-Syndrom - eine chronische Krankheit, die automatisch dazu führte, dass der Versicherer den Kunden in einem Fall abgelehnt hat. Aus Reichards Sicht stehen die Verbraucher vor einem großen Problem. Die mutmaßlichen Betrügereien haben aber noch mehr Folgen, die weit über den Abschluss von Versicherungen hinausgehen. Etwa bei Verkehrsunfällen: Wer unverschuldet in einen schweren Unfall verwickelt und dabei verletzt wird, kann durch frühere Manipulationen benachteiligt werden. "Dann will der gegnerische Haftpflichtversicherer vielleicht nur einen Teil des Schadenersatzes zahlen, weil er argumentiert, dass der Verletzte schon vorher gesundheitliche Probleme hatte", sagt Verbraucherschützerin Reichard.

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