Konjunktur in Deutschland:Neues Wachstumsziel: drei Prozent

Krise? War da was? Die deutsche Wirtschaft berappelt sich besser als erwartet und schafft im zweiten Quartal ein Plus von 2,2 Prozent - so viel wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Führende Ökonomen sehen das Wachstum im Gesamtjahr schon bei drei Prozent, doch Gesamtmetall-Präsident Kannegiesser warnt vor zu viel Euphorie.

Euphorie? Nicht in der Wirtschaft! Trotz des stärksten deutschen Wachstums seit fast 20 Jahren warnt der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt vor allzu großem Optimismus. "Erneute Rückschläge sind nicht auszuschließen", sagte der Chef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI).

Konjunktur in Deutschland: Warenumschlag am Hamburger Hafen: Die Konjunktur in Deutschland zieht an, und das stärker als erwartet.

Warenumschlag am Hamburger Hafen: Die Konjunktur in Deutschland zieht an, und das stärker als erwartet.

(Foto: AP)

So drohe eine Staatsschuldenkrise, weil die Belastung vieler Länder wegen der Konjunkturprogramme und der Hilfen für die Finanzbranche explodiert sei. In Europa ist seiner Einschätzung nach mit dem Rettungsschirm für angeschlagene Staaten erst einmal Ruhe eingekehrt - es sei aber fraglich, wie lange.

"Und die Schulden der USA, Japans und Großbritanniens sind inzwischen auch bedenklich hoch."

Schmidt, der 2009 Bert Rürup im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage ersetzt hatte, hält es für offen, ob sich der gegenwärtige Aufschwung bereits selbst trage und wie der Wachstumstrend verlaufe. "Die jüngsten internationalen Indikatoren lassen eher eine Verlangsamung des Anstiegs des Welthandels erwarten."

"Größte Überraschung der Rezession"

Boomende Exporte hatten der deutschen Wirtschaft im zweiten Quartal zu der überraschend starken Steigerung verholfen. Auch der Konsum trug von April bis Juni zum Wachstum bei, nicht zuletzt dank eines robusten Arbeitsmarkts.

Das sei die größte Überraschung der Rezession, sagte Schmidt. Und die Aussichten seien teilweise auch günstig: Da mehr Ältere in Rente gingen als Junge nachrückten, werde sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt noch weiter verbessern, glaubt Schmidt. "Auf den Konsum dürfte dies nur sehr gedämpft durchschlagen", räumte der Arbeitsmarktexperte allerdings ein.

Die Renten, die einen beträchtlichen Teil der verfügbaren Einkommen stellten, würden demnach voraussichtlich nur noch moderat steigen. Zudem sei zu erwarten, dass die Arbeitnehmer mehr sparen, weil sie die private Altersvorsorge verstärkten.

Trotz seiner Skepsis bezüglich der künftigen Entwicklung zeigte sich Schmidt positiv erstaunt über die gute Entwicklung der Wirtschaft im laufenden Jahr. "Bei den außerordentlich günstigen Vorgaben wird unsere Prognose Mitte September natürlich deutlich höher ausfallen als die vom Juni", sagte der 47-Jährige. Dabei sei eine Drei vor dem Komma durchaus möglich. Zuletzt hatte das RWI ein Wachstum von 1,9 Prozent in diesem Jahr vorhergesagt.

Neuer Optimismus

Auch das Münchner Ifo-Institut kündigte an, seine Prognose anzuheben und schließt eine Steigerung von mehr als drei Prozent nicht aus. Schon vor wenigen Wochen hatte Ifo-Chef Hans-Werner Sinn von "Partylaune" gesprochen.

Martin Kannengiesser

Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser: "Die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen sind schwieriger geworden. Wir wissen nicht, wie sich das auswirken wird - und genau das verstärkt die Risiken natürlich."

(Foto: ddp)

Der Wirtschaftsforscher Joachim Scheide schraubte seine Wachtumsprognose ebenfalls nach oben in die Nähe von drei Prozent: "Das ist höher, als die meisten bis vor kurzem erwartet haben", sagte der Konjunkturexperte des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. "Im Juni hatten wir 2,1 Prozent prognostiziert, und galten da schon als optimistisch." Das Plus von 2,2 Prozent im zweiten Quartal sei eine große Überraschung. "Es ist aber nicht zu erwarten, dass es in diesem Tempo weitergeht - das wäre unnatürlich."

Das Bruttoinlandsprodukt habe auch noch nicht wieder das Niveau aus der Zeit vor der Krise erreicht, mahnte Scheide. Es gebe auch anhaltende Risiken. Dazu zählten die schwächere Konjunktur in den USA und China. "Das wird uns auch betreffen, das heißt, es wird schon deutlich langsamer vorangehen in den nächsten Quartalen."

"Das schwappt nun ins Gegenteil"

Deutschland könne aber optimistisch sein und werde relativ gut dastehen. Wegen der starken Exportabhängigkeit sei Deutschland im vorigen Jahr vom Einbruch des Welthandels besonders stark betroffen gewesen, erläuterte der Konjunkturexperte. "Das schwappt nun ins Gegenteil um, deshalb stehen wir auch besser da als andere Länder." Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei insgesamt nach wie vor sehr gut. "Uns hat besonders geholfen, dass die Unternehmen sehr stark engagiert sind in Schwellenländern, zum Beispiel in Asien. Das sind die Regionen, die in den vergangenen Quartalen besonders stark gewachsen sind."

Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser warnte gleichfalls vor zu viel Euphorie. "Auch unsere Industrie erholt sich schneller als erwartet. Wir sind aber in weiten Sparten und Bereichen noch lange nicht wieder da, wo wir vor Ausbruch der Krise waren - und das zeigen die Kennzahlen auch: Unsere Aufträge müssen um zwölf Prozent, die Produktion um 15 Prozent wachsen, bis wir den Einbruch wettgemacht haben", sagte Kannegiesser zu sueddeutsche.de.

In der Breite der Metall- und Elektro-Industrie werde erst 2011 und 2012 wieder das Vorkrisen-Niveau erreicht. "Danach erst kann man wieder von eigentlichem Wachstum sprechen", so Kannegiesser.

Nach dem starken zweiten Quartal werde sich das Aufholtempo sicher verlangsamen, sagte auch Kannegiesser. Der Grund: Viele Firmen hätten zunächst einmal ihre Lagerbestände wieder aufgefüllt. "Das ist aber inzwischen erfolgt, von der Seite aus wird es keine großen Bestellschübe mehr geben. Wir können auch kaum davon ausgehen, dass die Märkte in Asien weiterhin so schnell wachsen. Dann laufen die meisten staatlichen Konjunkturprogramme aus, gleichzeitig müssen die riesigen Schuldenberge bewältigt werden. Die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen sind schwieriger geworden. Wir wissen nicht, wie sich das auswirken wird - und genau das verstärkt die Risiken natürlich", sagte Kannegiesser.

Zuvor hatte das Statistische Bundesamt mitgeteilt, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) gegenüber dem ersten Vierteljahr 2010 mit 2,2 Prozent so stark gegenüber dem Vorquartal gewachsen sei wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.

Volkswirte hatten im Schnitt ein BIP-Wachstum um rund 1,3 Prozent vorhergesagt. Gleichzeitig korrigierten die Statistiker das BIP-Wachstum im ersten Quartal gegenüber dem Schlussvierteljahr 2009 deutlich auf 0,5 Prozentpunkte nach oben. Bisher hatten sie ein Plus von 0,2 Prozentpunkten errechnet. Der zum Jahreswechsel ins Stocken geratene Aufschwung habe sich damit "eindrucksvoll zurückgemeldet".

Der Boom hat mehrere Ursachen: Er wird sowohl traditionell von den Exporten befeuert, aber auch vom privaten Konsum der Deutschen, der über Jahre schwach war. Zudem wirken sich den Statistikern zufolge die Konjunkturprogramme des Staates positiv aus. Die Unternehmen investieren außerdem wieder mehr.

"Wir erleben einen Aufschwung XL"

Noch im vergangenen Jahr war Deutschland in der Folge der Finanzkrise in eine schwere Rezession gerutscht. Nach den jüngsten Berechnungen stieg die deutsche Wirtschaftsleistung damit auf Jahressicht preisbereinigt um 4,1 Prozent.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) sagte, die Dynamik des zweiten Quartals lasse "ein Wachstum von weit über zwei Prozent für 2010 in den Bereich des Möglichen rücken". Und: "Wir erleben derzeit einen Aufschwung XL." Er fügte hinzu, die aktuellen Zahlen seien "eine klare Ermutigung, den Ausstieg aus der staatlichen Krisenfürsorge fortzusetzen". Zugleich solle der Weg der Haushaltskonsolidierung weitergegangen werden.

Die Ökonomen der Banken fanden für den Zuwachs der Wirtschaftsleistung zunächst nur positive Worte. "Da fällt mir nur noch ein Begriff ein: Sommermärchen. Das ist eine phänomenale Zahl, und auf dieser Basis werden wir wohl auch unsere Prognosen für das Gesamtjahr anheben", sagte der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer.

Auch das dritte Quartal dürfte noch recht stark ausfallen, bevor sich die Konjunkturentwicklung wieder normalisieren werde. Ein zweites Abrutschen der Konjunktur schließt Krämer aus. "Einen Rückfall in die Rezession wird es nicht geben, zumal die deutsche Wirtschaft nun davon profitiert, dass sie sich schon in den vergangenen Jahren in puncto Wettbewerbsfähigkeit gute Fortschritte erarbeitet hat und diese jetzt nicht zuletzt in Asien ausspielen kann."

"Das ist der Wahnsinn"

Euphorie auch bei Ökonom Alexander Koch von der Unicredit. "Das ist der Wahnsinn. Wir rechnen jetzt mit mehr als drei Prozent Wachstum im gesamten Jahr", sagte Koch der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Industrie und der Bau seien die wichtigsten Wachstumstreiber. Die Konsumrezession sei überwunden. "Wenn es nicht wieder zu einer weltweiten Rezession kommt, dürfte die Wirtschaft auch in den kommenden Quartalen auf breiter Front wachsen - aber nicht in dem Tempo: Über zwei Prozent, das ist schwer zu halten. Wir werden nicht so weiterfeiern können. Das Vorkrisenniveau vor dem Kollaps von Lehman Brothers haben wir frühestens Mitte 2011 erreicht", sagte Koch.

Im Krisenjahr 2009 war die Konjunktur nach revidierten Angaben um 4,7 Prozent abgestürzt, wie das Statistische Bundesamt nun mitteilte. Es korrigierte damit die bisherigen Zahlen leicht, die ein Minus von 4,9 Prozent ausgewiesen hatten. Die beispiellosen Schwankungen in der jüngsten Krise führen dazu, dass die Werte für die Konjunkturentwicklung ungewöhnlich stark korrigiert werden müssen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: