SZ-Serie zur Gerechtigkeit, Folge 10:Die wahren Gerechtigkeitslücken

Besteuerung von Familien und Erben und Bildung als Hauptthemen.

Von Stephan Klasen*)

Agenda 2010, Gesundheits-, Renten- und Steuerreform bringen teilweise drastische Kurswechsel mit sich. Bei solchen Einschnitten ist die Frage nach der gerechten Verteilung der Lasten angebracht. Ebenso notwendig ist es aber, die Frage nach der Gerechtigkeit in einem größeren Zusammenhang zu sehen.

Für den Wohlfahrtsökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen ist eine Gesellschaft gerecht, wenn sie möglichst all ihren Mitgliedern gleichermaßen grundlegende Möglichkeiten eines erstrebenswerten Lebens sichert. Mit diesen Möglichkeiten meint er nicht nur bürgerliche Grundrechte, sondern auch wirtschaftliche Möglichkeiten - gesund, gebildet, adäquat ernährt, bekleidet und behaust zu sein, sich sinnvoll zu betätigen, oder gesellschaftlich integriert zu sein.

Wie gerecht geht es demnach in Deutschland zu? Unser Sozialsystem stellt im Augenblick die grundlegenden materiellen Möglichkeiten weitestgehend sicher. Dass Armut und Ungleichheit im internationalen Vergleich relativ gering sind und trotz Massenarbeitslosigkeit nicht erheblich zugenommen haben, ist eine große Errungenschaft. Daran werden wahrscheinlich die Reformen der Hartz-Kommission und der Agenda 2010 auch nichts Wesentliches ändern.

Das Gleiche gilt bisher im Großen und Ganzen für das Gesundheitssystem. Zwar sind Reichere auch in Deutschland gesünder, doch ist dies nur zum Teil auf einen ungleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zurückzuführen. Allerdings gibt es hier schon einige kritische Punkte. Zum einen ist die Ungleichbehandlung von Angestellten (die bei Krankenkassen pflichtversichert sind) und Beamten (die staatliche Beihilfe und private Zusatzversorgung haben) sicherlich

ein Problem. Darüber hinaus kann es gut sein, dass erhebliche Zuzahlungen und Ausschlüsse, die jetzt vorgeschlagen werden, zu einem größeren sozialen Gefälle führen. Hier wäre eine Bürgerversicherung, die alle gesellschaftlichen Gruppen in die gesetzliche Krankenversicherung einbezieht, die gerechtere Lösung.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein Finanz-, sondern auch ein Gerechtigkeitsproblem. Aber hier sollte das Augenmerk nicht nur auf der Verschärfung der Bedingungen für Arbeitslose liegen, es sollte auch Anreize zu mehr Beschäftigung geben. Hier ist insbesondere an eine negative Einkommensteuer für Geringverdiener zu denken, die einen Niedriglohnsektor ermöglichen würde.

Allerdings gibt es in anderen Bereichen erhebliche Gerechtigkeitslücken, die bedauerlicherweise in der jetzigen Debatte kaum Beachtung finden. Die wohl eklatanteste gibt es in der Bildung. In Deutschland gibt es, wie die Pisa-Studien zeigen, nicht nur ein insgesamt mittelmäßiges Bildungssystem. Hierzulande bestimmt auch die soziale Herkunft den Bildungserfolg mehr als in den meisten anderen Industrieländern.

Bildung, eine zentrale Möglichkeit in einer gerechten Gesellschaft, hängt also hauptsächlich von der Familie ab. Die Ursachen dafür haben sicherlich mit der frühen Trennung der Kinder nach Schulformen sowie mit der Halbtagsschule zu tun, die einen Großteil der Lernmöglichkeiten vom Engagement der Eltern abhängig macht. Hier sollte ein Hauptaugenmerk bei Reformen liegen.

Das Problem der Immobilität zwischen den Generationen wird durch die sehr geringe und völlig unsystematisch angewandte Erbschaftsteuer noch verstärkt. Dies ist weder gerecht noch besonders effizient, denn es ist durchaus nicht klar, dass die Kinder gut situierter Eltern unbedingt die Leistungsträger der nächsten Generation sein werden. Auch die Besteuerung von Familien ist ungerecht.

Ehegattensplitting, kostenlose Familienversicherung, Halbtagsschule und fehlende Kinderbetreuung machen es für Zweitverdiener, vor allem Frauen, unrentabel oder unmöglich, sich aktiv am Arbeitsleben zu beteiligen. Denn Steuern, Sozialabgaben und Betreuungskosten können das Gehalt ganz aufzehren oder sogar noch übersteigen.

Damit wird ihnen eine zentrale Möglichkeit genommen, sich trotz Kindern am Erwerbsleben zu beteiligen. Auch hier wäre eine Umstellung auf ein Individualsteuersystem mit großzügiger Kinderförderung und verbesserter Kinderbetreuung nicht nur gerecht, es würde den Sozialkassen neue Beitragszahler zuführen und bei Betreuungseinrichtungen Arbeit schaffen. Schweden ist dafür ein positives Beispiel.

Deutschland täte eine breite Debatte über mehr Gerechtigkeit gut. Die jetzt angestrebten Reformen werden einen marginalen Einfluss haben, während die großen Gerechtigkeitslücken weitgehend unangetastet weiterexistieren.

(SZ vom 16.08.2003)

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