Kenneth Rogoff zur Finanzkrise:"Wir müssen das Monster bändigen"

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Harvard-Ökonom Rogoff über die Folgen der Krise, den möglichen Staatsbankrott von Österreich - und den nächsten Crash in zehn oder fünfzehn Jahren.

Nikolaus Piper

Er ist einer der renommiertesten Ökonomen der Welt und forscht seit Jahren zu Finanzkrisen: Kenneth Rogoff, 56, Professor an der amerikanischen Universität Harvard. Von 2003 bis 2005 war Rogoff Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Für ein Buch werteten er und Carmen Reinhardt Finanzkrisen aus acht Jahrhunderten aus. Ergebnis: Die Welt macht immer wieder die gleichen Fehler.

Ökonom Rogoff: "Der Finanzsektor ist beschädigt und der Kreditfluss stockt." (Foto: Foto: Bloomberg)

SZ: Herr Professor Rogoff, was erwartet die Weltwirtschaft im nächsten Jahr?

Kenneth Rogoff: Wir stehen vor einem sehr schwierigen Aufschwung. Die Wirtschaft in den USA und Europa wird wachsen, aber sehr schwach. Die Arbeitslosigkeit wird noch schlimmer, in den USA dürfte die Quote von derzeit 10,2 auf elf Prozent steigen. In Europa sieht der Arbeitsmarkt besser aus; das bedeutet aber auch, dass die Beschäftigung nicht wesentlich steigen wird, wenn der Aufschwung da ist. Die Firmen beschäftigen derzeit Arbeitskräfte, die sie nicht nutzen können. Die Hauspreise in den USA werden noch einmal sinken.

SZ: Wie viel Preisverfall erwarten sie noch?

Rogoff: Weitere fünf bis zehn Prozent in den nächsten zwei Jahren sind durchaus möglich. Was die Aktien betrifft, bin ich nicht so pessimistisch. Niedrige Zinsen stützen die Kurse.

SZ: Aber das ist doch alles künstlich, der Boom wird vom Staat finanziert.

Rogoff: Ja, er ist künstlich, aber er kann trotzdem eine Zeitlang anhalten. Die Notenbanken werden frühestens Mitte des nächsten Jahres beginnen, über Zinserhöhungen nachzudenken.

SZ: Warum steigt die Arbeitslosigkeit so schnell?

Rogoff: Nach einer normalen Rezession dauert es in der Regel zwei Jahre, bis der Vor-Krisen-Stand wieder erreicht ist. Nach einer schweren Finanzkrise kann es fünf Jahre dauern.

SZ: Aber warum ist das so?

Rogoff: Das hat viele Gründe. Der Finanzsektor ist beschädigt und der Kreditfluss stockt. Finanzkrisen kommen oft am Ende einer Spekulationsblase, in der die Beschäftigung ein Niveau erreicht hat, das nicht durchzuhalten ist. Als ich in der Universität war, rechnete man mit 7,0 bis 7,5 Prozent als Gleichgewichts-Quote. Zuletzt hatten wir aber 4,5 Prozent.

SZ: In Deutschland galt bis zum Beginn der siebziger Jahre eine Arbeitslosenquote von 0,5 Prozent als normal.

Rogoff: Ernsthaft? Ich glaube in den USA sind heute sechs Prozent normal, und wir werden fünf Jahre brauchen, um die zu erreichen. Dazu müssen 9,5 Millionen neuer Jobs geschaffen werden. Im Vergleich zum Vor-Krisen-Stand fehlen sogar elf Millionen. Nun entstehen in einem sehr guten Monat zwischen 200.000 und 300.000 neue Arbeitsplätze. Das bedeutet: Der normale Arbeiter spürt erst einmal nichts vom Aufschwung.

SZ: Die Regierungen und Notenbanken haben auf beispiellose Weise in die Wirtschaft eingegriffen, um die Krise zu stoppen. Wie bewerten Sie diese Politik?

Rogoff: Ich frage immer zuerst: Wie hätte ich selbst entschieden? Das führt zu etwas freundlicheren Noten, wenn man ehrlich mit sich selber ist. Unter diesem Vorbehalt würde ich der Federal Reserve und der Europäischen Zentralbank eine 'eins minus' geben, der Regierung Obama ein 'zwei plus".'

SZ: Und was ist mit den anderen?

Rogoff: Beim Weltfinanzgipfel in Pittsburgh haben sich die Politiker selbst eine 'eins plus' gegeben, indem sie erklärten: Es hat funktioniert.

SZ: Und hatten sie nicht recht damit?

Rogoff: Ja und nein. Sie haben praktisch jeden Kredit auf der Welt garantiert und ein Netz über das Weltfinanzsystem geworfen. Das hat die Panik gestoppt. Aber was ist jetzt? Jetzt ist der letzte Hauch von Disziplin im Finanzsektor verschwunden. Goldman Sachs kann extrem günstig Geld leihen, selbst für sehr riskante Geschäfte. Alle wissen, dass die Regierung dahinter steht. Wir haben ein Monster geschaffen und die Steuerzahler tragen das Risiko.

SZ: Das Monster ist Goldman Sachs?

Rogoff: Nein, es ist der gesamte Finanzsektor. Wir müssen dies Monster bändigen, und zwar mit viel schärferen Regeln als dies notwendig gewesen wäre, wenn die Regierung ein bisschen weniger großzügig mit den Gläubigern der großen Finanzinstitute umgegangen wären. Das war ein großer Fehler. Es ist schon richtig: Die Situation im letzten Herbst war extrem schwierig. Aber nun haben wir uns in eine Ecke manövriert, aus der nur schwer wieder herauszukommen ist.

Wenn wir jetzt keine harten Regeln aufstellen, erleben wird die nächste Finanzkrise in zehn bis 15 Jahren, und sie könnte noch schlimmer werden als die letzte. Wenn wir es mit der Regulierung aber übertreiben, werden wir auf Jahrzehnte niedriges Wachstum bekommen.

SZ: Hätte es denn eine Alternative gegeben, ohne Monster?

Rogoff: Es wäre viel besser gewesen, wenn so viele Besitzer von Anleihen wie möglich einen Teil ihres Geldes verloren hätten, selbst wenn dies vorübergehend eine noch tiefere Rezession bedeutet hätte. Der Aufschwung hinterher wäre schneller gekommen.

SZ: Hätten die USA denn die rechtliche Möglichkeit gehabt, um zum Beispiel die Gläubiger der Skandalversicherung AIG zu Opfern zu zwingen?

Rogoff: Sie behaupten, dass dies nicht gegangen wäre, aber ich bezweifle das. Vermutlich hatten sie nur Angst vor den Konsequenzen. Man wird es nie wissen.

SZ: Und was kommt jetzt?

Rogoff: Das Netz ist über den Finanzsektor geworfen, das kann man nicht mehr rückgängig machen. Aber es gibt vieles, was man tun kann. So sollten so schnell wie möglich strenge Eigenkapitalregeln und besondere Vorschriften eingeführt werden, die die Banken daran hindern, sich kurzfristig zu verschulden. Diese kurzfristigen Kredite sind momentan das Hauptproblem. Dann sollte der Staat den Banken Darlehen geben, die bei Bedarf in normales Aktienkapital umgewandelt werden können. Schließlich sollte man auf irgendeine Weise die Größe von Banken besteuern, zum Beispiel durch zusätzliche Eigenkapitalanforderungen. Seit Ausbruch der Krise sind über 1000 Hedgefonds untergegangen, aber keine einzige Großbank. Das ist nicht gesund.

SZ: Und was soll mit den riesigen Staatsdefiziten geschehen, die in der Krise aufgelaufen sind? Ist Inflation die Lösung?

Rogoff: Ich fürchte, dass genau dies in fünf bis zehn Jahren passieren wird. Nicht notwendigerweise in Europa, wo die EZB ziemlich strikte Strukturen hat. Die deutsche Tradition wirkt hier als Schutz. In den USA ist das anders. Rechnen Sie mal nach: Die Regierung beansprucht derzeit 15 Prozent des BIP über Besteuerung für sich. Traditionell waren es 20 Prozent, aber wegen der ganzen Schulden müssen wir auf 22 Prozent hinaufgehen, nur um auf einen nachhaltigen Pfad zu kommen. Das bedeutet, dass die Steuerlast in Amerika in den nächsten fünf Jahren um 30 bis 50 Prozent steigen muss. Und das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Die Republikaner wollen überhaupt keine Steuern, die Demokraten wollen nur die Reichsten besteuern.

SZ: Dafür haben Sie nicht genug Reiche.

Rogoff: Eben. Bei den Reichen kann man nicht einmal einen Bruchteil dessen holen, was notwendig ist. Und dann müssen Sie berücksichtigen, dass die Demokraten mit ihrer Gesundheitsreform den Wohlfahrtsstaat ausbauen und dafür ebenfalls die Reichen besteuern wollen. Höhere Inflationsraten sind eine Form der Besteuerung durch die Hintertür.

SZ: Das geht aber nur, wenn die Fed mitmacht, und die ist unabhängig.

Rogoff: In der Amtszeit von Präsident Obama wird fast der gesamte Rat der Fed erneuert. Darüber kann man Politik gestalten. Auch der Kongress kann die Fed beeinflussen. Die Fed kann zwar einige Jahre Druck aushalten, aber nicht ewig.

SZ: Würden Sie an Stelle von Präsident Obama tatsächlich Inflation zulassen?

Rogoff: Nein. Darum geht es auch gegenwärtig gar nicht. Ich habe für die Zukunft gewarnt. Obama hat aber mit Blick auf diese Probleme einen riesigen Fehler gemacht, und zwar beim Gesetz über Emissionsrechte. Er gibt den Umweltverschmutzern die Emissionsrechte einfach umsonst, so wie Sie dies in Europa auch gemacht haben. Damit ließ er eine Gelegenheit verstreichen, das Steueraufkommen auf eine konstruktive und unschädliche Weise zu erhöhen. Ein schrecklicher Fehler. Obama braucht eine klare und überzeugende Strategie für den Abbau des Defizits, eine Strategie, die nicht auf übermäßig rosigen Wachstumsprognosen basiert. Er sollte offen darüber reden, dass die Steuern steigen müssen, und nicht nur für die Reichen.

SZ: Wie sieht es in Europa aus? Die Staatsschulden sind nicht so schnell gestiegen wie in den USA ...

Rogoff: ... aber Ihre demographischen Probleme sind größer.

SZ: Und was bedeutet das?

Rogoff: Das Wachstumsmodell Europas wurde durch die Finanzkrise nicht so stark beeinträchtigt wie das amerikanische, weil der Finanzsektor bei Ihnen nicht so groß ist. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass man sich mehrere Jahre lang nicht mit den langfristigen Problemen beschäftigt hat; man hat das Rentenalter in vielen Ländern noch nicht erhöht und Ansprüche aus den Sozialsystemen nicht ausbalanciert. Deshalb haben Sie jetzt weniger Zeit, um Ihre demographischen Probleme zu lösen. Deutschland muss einen Mittelweg finden. Auf der einen Seite sind die Staatsschulden bedrohlich gestiegen. Auf der anderen Seite ist die Krise noch nicht vorbei und es gibt Gründe, die Konjunktur zu stützen.

SZ: Erwarten Sie, dass die USA irgendwann den Staatsbankrott erklären werden?

Rogoff: Was ich voraussage, ist Inflation. Aber eine Finanzkrise kann schnell zu einer Haushaltskrise werden. Der Staat verschuldet sich derzeit sehr kurzfristig. Dadurch spart er Geld, weil die Zinsen so niedrig sind. Aber er wird auch extrem verletzlich, wenn ein Vertrauensverlust eintritt und die Zinsen steigen. Wir müssen in den nächsten zwei Jahren 40 Prozent unserer Staatsschuld refinanzieren, und da sind die Schulden der Fed noch nicht einmal enthalten.

SZ: Also doch eine Warnung vor dem Staatsbankrott?

Rogoff: Ja. Wenn wir uns zu sehr kurzfristig verschulden, kann dies in einem Bankrott enden. Die USA haben dies schon erlebt. 1933 wurde der Goldpreis von 20 auf 35 Dollar heraufgesetzt. Das war nichts anderes als ein Staatsbankrott. Es ist dumm zu glauben, dies könne sich nicht wiederholen.

SZ: Und wie sieht es in Europa aus?

Rogoff: Es gibt eine Reihe gefährdeter Länder. Ich sehe keine unmittelbare Gefahr, aber auf mittlere Sicht liegt das Risiko, dass ein oder zwei mittel- oder osteuropäische Länder den Staatsbankrott erklären, bei über 50 Prozent. Und es ist sogar eine Möglichkeit für Irland, Griechenland und Österreich.

SZ: Österreich? Meinen Sie das ernst?

Rogoff: Wenn ein osteuropäisches Land sich für zahlungsunfähig erklären sollte, würde dies in Österreich eine große Finanzkrise auslösen.

© SZ vom 1.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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