Bundespräsident zur Verantwortung der Wirtschaft:Gaucks Wutrede

Verantwortung und Freiheit sind Joachim Gaucks Lieblingsthemen. In Berlin nutzt der Bundespräsident die Gelegenheit, der versammelten Wirtschaftselite den Kopf zu waschen. Einige von ihnen hätten vergessen, was einen anständigen Kaufmann ausmache.

Thorsten Denkler, Berlin

Nein, Joachim Gauck ist nicht für ein bisschen Small Talk ins Nobelhotel Adlon gekommen. An diesem nebeligen Morgen in Berlin hat er Besseres vor. Er wird der versammelten Wirtschaftselite den Kopf waschen, die Leviten lesen, ihnen mal reinen Wein einschenken. Oder was auch immer es für Umschreibungen dafür gibt, wenn ein Bundespräsident Dampf ablässt.

Gauck spricht ruhig und überlegt. Er liest seine Rede ab (hier im Wortlaut, hier zusammengefasst im Video). Was er sagen wird, das will er auch so sagen - und zwar genau so. Er beginnt harmlos: Es gebe eine "ökonomische Ratio von Freiheit und Verantwortung", sagte er. Freiheit und Verantwortung, das sind ohnehin seine Leib- und Magenthemen. In der Regel nutzt er sie dazu, um den weniger privilegierten Schichten Mut zu machen, sich nicht hängen zu lassen, sondern sich Chancen zu erarbeiten und zu nutzen, wenn sie denn da sind.

Hier aber, auf dem Führungstreffen 2012 der Süddeutschen Zeitung hat er jene vor sich, die angepackt haben. Für Gauck haben manche dabei nur in die völlig falschen Kisten gegriffen.

"Maßlosigkeit hat in diese Krise geführt"

Gauck spricht die Finanzkrise an, die 2008 ihren ersten Höhepunkt erreichte und seitdem auf hohem Niveau vor sich hin wütet. Damals hätten sich einige Führende "als Verführte oder gar Verführer" erwiesen. "Mit ihrem Gewinnstreben und ihrer Gier - nicht nur im Finanzsektor", rechnet Gauck ab. "Mit ihren Wohlstandsversprechen und überbordenden Wachstumsphantasien - nicht nur in der Politik. Mit ihrer Gutgläubigkeit und ihren überzogenen Erwartungen - nicht nur auf Kundenseite." Dass es so weit kommen konnte, hat in Gaucks Augen nur einen Grund: "Maßlosigkeit hat in diese Krise geführt."

Die Folge: "Aus Verantwortungskrisen wurden Wirtschaftskrisen und Staatsschuldenkrisen, weil Ansprüche und Anstrengungen einander nicht mehr entsprachen."

Gauck macht eine veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit aus. Obwohl es Deutschland verhältnismäßig gut gehe, die Arbeitslosenzahlen halbwegs stabil seien, die Wirtschaftskraft zumindest nicht nachlasse, habe sich "so gut es uns geht - im Denken etwas verändert". Der Glaube an ein "Weiter so" sei "erschüttert".

Mehr Demut für die Deutschen

Neue Regeln für die Finanzmärkte - Gauck ist dafür, natürlich. Aber ihm geht es um mehr: "Die Überprüfung unserer inneren Überzeugungen, unserer Motive und Haltungen." Dieser Prozess scheine ins Stocken geraten zu sein.

Die Welle der Empörung zu Beginn der Finanzkrise, in der der "Casino-Kapitalismus" angeprangert wurde, von "Zockern und Hasardeuren" die Rede gewesen sei, habe vor allem von Schuldzuweisungen gelebt. "Eher selten sind es die Führungskräfte aus Wirtschaft oder Politik, die bekennen: 'Ich habe einen Fehler gemacht.'"

Gauck will den Deutschen an dieser Stelle mehr Demut beibringen. "Ein neuer Umgang mit Fehlern stünde uns gut zu Gesicht", sagt er. Zu Führung, Größe und Glaubwürdigkeit gehöre es, Fehler zu erkennen und zu benennen. Fehler sollten weniger als Scheitern begriffen werden denn als "wertvolle Erfahrung, die beim Neubeginn hilft".

Gauck will nicht länger die Marktkrise mit Schlagworten abtun wie "Der Markt hat versagt.". "Die Regulierung hat gefehlt." Oder: "Die Sanktion hat nicht gegriffen." Schuld seien "das System", "die Politik" oder am besten gleich: "die Globalisierung" und "der Kapitalismus".

"Hören wir uns eigentlich noch zu?"

"Hören wir uns eigentlich noch zu?", fragt Gauck. "Wir sprechen über einen abstrakten Feind, der unüberwindbar klingt wie Militärmacht und Mauern des Kalten Krieges." Gauck fordert ein Ende solcher Abstraktionen. Weil sich sonst "die Spur der Verantwortung" im "Klagen über die Komplexität der Dinge, im Modus der Unzuständigkeit oder Verzagtheit" verliere.

Gauck nimmt sich explizit mit ein, wenn er sagt: "Wir haben den Preis unseres Handelns vom Augenblick der Entscheidung entkoppelt." Zwei Dinge seien dabei getrennt worden, die zusammengehörten: "die Freiheit, etwas zu tun, und die Verantwortung, dafür geradezustehen".

Verantwortung, das bedeute dann auch: Antworten geben nicht allein auf die Fragen der Anteilseigner und Aktionäre, "sondern auch auf die der Mitarbeiter und Kunden, der Lieferanten und Partner, der Bürger, Kinder, Enkel". Diese Gesprächsbereitschaft hätten "einige teilweise, andere ganz verloren".

"Ich liebe die Freiheit"

Der Präsident gesteht: "Ich kann hier keine Hilfe zaubern, aber für eine Haltung werben." Er wünscht sich, dass "wir unsere Vorstellungen von Verantwortung hinterfragen". Gauck: "Verantwortung darf kein Geschäft zu Lasten Dritter sein."

Diese Verantwortung ist in Gaucks Augen eine individuelle. Nicht allein der Staat sei gefragt, die Auswüchse zu begrenzen. Seine Grundeinstellung hat sich nicht verändert. "Ich liebe die Freiheit. Ich bin nicht bereit, sie der Angst zu opfern." Heißt: "Auch in Krisenzeiten dürfen wir nicht glauben, zukunftsfähig zu werden, indem wir der Wirtschaft die Freiheit nehmen, die sie stark macht."

Und doch bekennt Gauck: "Auch ich gehörte eine Zeit lang zu jenen, die beim Stichwort Regulierung vor allem glaubten: Weniger ist mehr." Jetzt sagt er: "Freies Unternehmertum braucht Grenzen." Und wundert sich über sich selbst. Er hätte nicht gedacht, "dass ausgerechnet ich, dessen Lebensthema die Überwindung von Grenzen ist, einmal ein Loblied der Grenze anstimmen würde".

Glaubwürdigkeit als Gewinn

Gauck hat erkannt, dass ohne Grenzen Freiheit und Verantwortung nicht überall gleichermaßen berücksichtigt werden. Verantwortlich handeln, das heißt für ihn jetzt: "aus Freiheit ein Freund von Grenzen zu sein".

Die wenigen, die sich die Freiheit nähmen, für nichts Verantwortung zu tragen, "zerstören die Voraussetzungen der Freiheit". Grenzenlosigkeit kann "unerhörte Höhenflüge" schaffen. "Aber für viele andere schafft Grenzenlosigkeit keinen Lebensraum, sondern eine Wüste." Schwarze Zahlen könnten kein Grund dafür sein, "rote Linien zu überschreiten".

Das sei auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Das klinge nicht nur moralisch wertvoll, sondern sei auch ökonomisch klug. Glaubwürdigkeit sei ein "echter, für Unternehmen durchaus monetärer Gewinn". Kunden quittierten moralische Verstöße manchmal schärfer als greifbare Produktmängel.

Gauck sieht darin mehr als einen Wettbewerbsvorteil: Ihm geht es um Menschenwürde, Menschenrechte, um Respekt, Demokratie, ihre Bürger. "Diese Werte dürfen wir nirgendwo abgeben - an keinem Fabriktor der Welt." Weder in Bangladesch, Budapest noch in Berlin.

Das ist auch eine Anklage an die Verbraucher, die ihm deutlich zu wenig Verantwortung für ihr wirtschaftliches Handeln übernehmen. "Man kann morgens um 5:00 Uhr für das neueste Gerät anstehen. Man kann aber auch einen ganzen Tag lang vor dem Laden gegen unmenschliche Arbeitsverträge protestieren." Und "wie lange greifen Europäer noch zur Jeans für zehn Euro, obwohl sie wissen, dass die Allerärmsten in Asien oder Lateinamerika mit ihrer Gesundheit oder ihrer Menschenwürde den Preis dafür zahlen, dass wir so billig einkaufen können?"

Auf Wettbewerb und Wachstum will Gauck deshalb nicht verzichten. Entscheidend aber sei, "dass wir die Regeln finden, die falsche Praktiken verhindern und fairen Wettbewerb ermöglichen".

Gauck beendet seine Rede so ruhig und gelassen wie er sie begonnen hat. Und doch war es die Wutrede eines Präsidenten. In aller Deutlichkeit - und mit der nötigen Zurückhaltung.

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