Bestseller "Ego - Das Spiel des Lebens":Monster-Unsinn

Autor Frank Schirrmacher macht in seinem Buch "Ego" den Homo Oeconomicus zum alles verschlingenden Ungeheuer. Das klingt zwar gut, ist aber Quatsch.

Ein Essay von Nikolaus Piper

Ja, die Ökonomen haben versagt. Möglicherweise schon vor der Finanzkrise, ganz sicher aber danach. Es ist ihnen nicht gelungen, der Öffentlichkeit überzeugend zu erklären, was 2008, 2009 und 2010 passiert ist und warum. Jetzt haben sie, wie Franz Josef Strauß gesagt hätte, die Lufthoheit über Stammtischen und Talkshows verloren. Angesagt ist ein - mal marktschreierischer, mal raunender - Antikapitalismus. Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Das Universum der Systemkritik ist mit lauter bösen Geistern bevölkert: den Spekulanten, den Neoliberalen, den Angelsachsen oder der "Machtachse New York/London", wie es im Marktausblick der Bremer Landesbank allen Ernstes hieß.

Frank Schirrmacher, Mit-Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen und Bestseller-Autor, hat jetzt die Mutter aller Verschwörungstheorien vorgelegt: Ökonomen, Informatiker, Mathematiker, die Hochfinanz, kurz der "Informationskapitalismus" hätten den Homo Oeconomicus, den rationalen, mit vollständigem Wissen ausgestatteten Homunkulus aus der Modellwelt der neoklassischen Ökonomie, in ein Monster verwandelt. Er sei von einem Versuch zur Beschreibung der Wirklichkeit zu einer Norm mutiert. Jetzt geistere er durch die Welt als "Nummer 2", als Double, das von dem echten Menschen, der "Nummer 1" verlangt, so zu sein wie er: egoistisch und hinterhältig.

"Ohne dass wir es gemerkt haben, haben Ökonomen den Seelenhaushalt des modernen Menschen zu ihrer Sache gemacht", schreibt Schirrmacher in seinem neuen Buch "Ego". Höchste Zeit also, sich das Monster genauer anzusehen.

Ganz falsch ist das nicht, aber unvollständig

Der Homo Oeconomicus wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden, als sich die klassische Ökonomie zur neoklassischen wandelte und nach dem Vorbild der Physik eine exakte Wissenschaft werden wollte. Er handelt nach dem Prinzip "kaufe billig, verkaufe teuer", nur eben in mathematisch reiner Form: Als Unternehmer maximiert er seinen Profit, als Verbraucher seinen Nutzen. Ganz falsch ist das nicht, aber unvollständig.

Jeder weiß, dass wirkliche Menschen komplizierter sind, irrationaler, unberechenbarer. Die Kritik an dem Konzept ist daher so alt wie das Konzept selbst. Der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen (1857-1929) verspottete die Neoklassiker, indem er den "Snob-Effekt" beschrieb: Die Hautevolee kauft ein Produkt erst dann, wenn es teuer ist. Die Nachfrage nach dem Produkt, sagen wir Nerzjäckchen, steigt also, anders als es die Theorie es vorhersagt, mit dem Preis.

Auch den Erfindern des Homo Oeconomicus war klar, dass sie nur einen Teil der Realität beschrieben. Sie glaubten aber, ökonomische Gesetze ohne eine derartige Abstraktion nicht erforschen zu können. Der italienische Soziologe und Ökonom Vilfredo Pareto schrieb 1906 in seinem "Handbuch der Politischen Ökonomie", man könne neben dem Homo Oeconomicus selbstverständlich auch den Homo Ethicus und den Homo Religiosus untersuchen. Den Ökonomen aber vorzuwerfen, sie missachteten den religiösen und den ethischen Menschen, wäre so, schreibt Pareto, "als würde man einem Geometer vorwerfen, er übersehe und missachte die chemischen, physikalischen und anderen Eigenschaften eines Körpers".

Generationen von Wissenschaftlern haben seither das Konzept geprüft, verworfen und teilweise rehabilitiert. Der Erzliberale Friedrich A. v. Hayek (1899-1992) lehnte den Homo Oeconomicus ganz ab, weil er in ihm das Erbe des französischen Rationalismus erkannte, dem er misstraute. Der deutsche Nobelpreisträger Reinhard Selten versucht durch Experimente ein realistischeres Bild ökonomischen Verhaltens zu gewinnen. Von dem Zürcher Ernst Fehr kann man lernen, welch große Rolle soziale Normen in der echten Wirtschaft spielen.

Ein ganzer Zweig der Wirtschaftswissenschaften, die Verhaltensökonomie, beschäftigt sich mit der Suche nach wirklichkeitsnäheren Modellen. Immer ging und geht es darum, ob der Homo Oeconomicus ein sinnvolles Instrument zur Erklärung der Wirklichkeit ist, niemals darum, ihn zur Norm für die Wirklichkeit zu machen.

Das ändert sich mit Schirrmacher. Er schlägt einen kühnen Bogen von den Neoklassikern über die Börsenhändler bis zu Google und Facebook und kommt zum Schluss: "Das Problem ist, dass wir Zeugen eines Umbruchs werden, in dem diese Modelle (der Ökonomen) die Wirklichkeit codieren und dadurch selbst wirklich werden." Das Monster zeigt sein hässliches Gesicht, sobald ich auf Facebook "Gefällt mir" klicke.

Einen Beleg gibt es nicht, nur einen Kronzeugen

Einen Beleg für die These gibt es nicht, wohl aber einen Zeugen der Anklage. Er heißt Philip Mirowski und ist Professor für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der katholischen Notre Dame University in Indiana. Mirowskis Kritik an der Ökonomie ist so radikal, dass er gemäßigtere Kollegen gar nicht erst ernst nimmt. Was Ökonomen wie Paul Krugman oder Joseph Stiglitz gegen die Neoklassik einwenden, erklärt er für irrelevant. Ihm gehe es, so sagt er, nicht um die Modelle an sich, sondern um den "Legitimitätsanspruch der neoklassischen Mikroökonomie".

Letzten Endes hält Mirowski Märkte für ebenso illegitim wie die Verfolgung des materiellen Eigeninteresse auf diesen Märkten. Damit bekommt die Kritik eine ganz andere Dimension: Wirtschaftliche Freiheit als solche steht zur Disposition. Das Monster ist nicht nur egoistisch, sondern auch hinterhältig, sagen Schirrmacher und Mirwoski. "Nummer 2" nutzt jede Gelegenheit, um sein Gegenüber hereinzulegen. Aber wie ist das dann mit dem Altruismus? Jeder weiß aus eigener Anschauung, dass Menschen mal selbstsüchtig und mal selbstlos handeln. Besonders dicht beieinander liegt beides in der amerikanischen Gesellschaft. Alexis de Tocqueville (1805-1859) beschrieb dies schon 1835 in seinem Bericht "Über die Demokratie in Amerika". Wer den Hurrikan "Sandy" im vergangenen Oktober in New York erlebte, der ist bis heute berührt von der Selbstlosigkeit und dem Gemeinsinn, mit dem sich New Yorker hinterher gegenseitig halfen.

Altruismus lässt sich durchaus auch als eigennütziges Handeln interpretieren. Gary Becker von der Universität Chicago hat das getan und dafür den Nobelpreis bekommen, der britische Spieltheoretiker Kenneth Binmore baute den Faktor Moral in seine Modelle ein. Der Gedanke liegt auch nahe. Wer Gutes tut, ohne Gegenleistung zu erwarten, der wird mit dem Vertrauen seiner Mitmenschen belohnt, mit Ansehen und privatem Glück. Wer gläubig ist, kann überdies auf Lohn im Himmel hoffen, er betreibt transzendente Nutzenmaximierung.

Die antikapitalistische Verschwörungstheorie hat deutsche Tradition

Früher bedankte man sich in Süddeutschland mit den Worten "Vergelt's Gott!". Doch Schirrmacher sieht hier das Monster am Werk. Allein die Idee, dass sich Fairness lohnen könnte, unterhöhle "den Glauben an jede Form von nicht- marktgetriebener, nicht-ökonomischer, normativer Kraft in einer Gesellschaft".

Es ist schwer, hier nicht an den konservativen Ökonomen Werner Sombart (1863-1941) zu denken. Der führende Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie schrieb 1915 in seinem berüchtigten antibritischen Kriegspamphlet "Händler und Helden": Der Leitgedanke der englischen Ethik sei es, gerecht zu sein, "auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebst auf Erden"; dies betrachtete er als den "infamsten Spruch, den je eine Händlerseele hat aussprechen können".

Hinter all den antikapitalistischen Verschwörungstheorien steht auch ein Stück deutscher Tradition: das Misstrauen gegen das Ökonomische schlechthin, das Widerstreben gegen das aufgeklärte Eigeninteresse. Eigentlich müssten wir es nach fast 65 Jahren sozialer Marktwirtschaft besser wissen.

Die Idee von einem Monster als Krisenursache lässt sich deshalb so leicht vermitteln, weil heute Computer Dinge können, die jede Phantasie übersteigen. Internet, Superrechner und Hochleistungsprogramme verändern unser Leben grundlegend. Der Gedanke daran, was Google und Facebook alles mit unseren Daten tun und tun werden, ist in der Tat furchterregend. Nur hat das alles mit dem Homo Oeconomicus nichts zu tun. Es ist das klassische Beispiel für eine Technik, die Menschen erfunden haben, aber (noch) nicht beherrschen, so wie einst das Schießpulver und bis heute die Kernspaltung.

Die Technik ist gefährlich, nicht die Menschen

Auch die Bildschirm-Batterien in modernen Börsensälen machen Angst. Der Handel findet fast nur noch über den Computer statt. Es gibt Hochfrequenzhändler, die ihre Aktien oft nur für Bruchteile einer Sekunde halten, "Dark Pools" - intransparente Spezialbörsen, die von Investmentbanken betrieben werden - und "Quants", Investoren, die mittels Algorithmen und abnormen Umsätzen Millionengewinne machen. Das alles ist gefährlich, nicht weil die Computer jemanden zum Homo Oeconomicus machen würden, sondern weil sie menschliche Fehler potenzieren. So war es am 6. Mai 2010 beim "Flash Crash" an der New York Stock Exchange, so war es beim Schwarzen Montag, dem ersten Börsenkrach des Computerzeitalters am 19. Oktober 1987.

Schließlich wäre von John Forbes Nash zu reden. Der Ökonom von der Universität Princeton ist einer der Pioniere der Spieltheorie. Er formulierte und formalisierte das sogenannte Nash-Gleichgewicht: Eine Situation, in der niemand einen Vorteil davon hat, dass er einseitig seine Strategie ändert. So simpel der Satz klingt, so zentral ist er für die Ökonomie.

Niemand ist Monstern ausgeliefert

Die Biographie Nashs ist einem breiten Publikum aus dem Film "A Beautiful Mind" bekannt: Der Ökonom entwickelte seine bahnbrechende Theorie im Alter von 22 Jahren. Dann erkrankte er an Schizophrenie und lief jahrzehntelang als "Phantom" durch Princeton. Hier gleitet Schirrmachers Buch ins Denunziatorische ab: Er unterstellt, zusammen mit Mirowski, dass es zwischen dem Inhalt von Nashs Theorie und seiner Krankheit einen Zusammenhang geben könnte. Einige der wichtigsten "Vordenker der neuen Rationalität" hätten "Zeichen hochgradiger mentaler Störungen" aufgewiesen, heißt es in "Ego".

Über seinen Sieg über die Krankheit sagte Nash vor zehn Jahren in einem Interview der New York Times: Es sei nicht so gewesen, dass seine Wahnvorstellungen plötzlich verschwunden seien. "Ich habe damit begonnen, sie zurückzuweisen und nicht mehr zuzuhören." Das wäre ein schönes Motto für die Diskussion über den Kapitalismus: Niemand ist Monstern ausgeliefert. Man kann auch Nein sagen. Man kann den Gedanken zulassen, dass es die große Verschwörung gar nicht gibt. Und erkennen, dass sich die Probleme der Gegenwart besser lösen lassen, wenn man nicht an Gespenster glaubt.

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