Wohnen:Ausweitung der Nacktzone

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Sieht aus wie ein Wohnzimmerschrank, ist aber eine Sauna: ausziehbar (siehe rechts), 60 Zentimeter tief auf anderthalb Meter - in verschiedenen Breiten. (Foto: Klafs)

Fernsehtruhen und Bücherregale braucht kein Mensch mehr, das bürgerliche Wohnzimmer ist am Ende. An seine Stelle tritt die Sauna.

Von Gerhard Matzig

"Weg damit", sagt Arno Brandlhuber, "weg mit dem Wohnzimmer! Das braucht man nicht. Schon das Wort - Wohnzimmer. Darf man in allen anderen Zimmern nicht wohnen?" Der Begriff erinnert an den rätselhaft pleonastischen Titel der Zeitschrift Zuhause Wohnen. Da fragt man sich: Wo soll man denn sonst wohnen? Im Büro? Im Auto? Im Kino?

Darf man andererseits nur im Wohnzimmer wohnen? Ein Anarchist wie Brandlhuber, zur Hälfte smarter Berliner Architekt, zur anderen (biografisch früheren) Hälfte unterfränkischer, sturschädelbegabter Bauernbub, muss sich herausgefordert fühlen. Und deshalb hat sich der 51-jährige Gestalter dort, wo sich andere ein Wohnzimmer hinträumen würden, in der Mitte eines 500-Quadratmeter umfassenden Hauses mit Seeblick in der Nähe von Potsdam, eine Sauna gebaut. Sie ersetzt das Wohnzimmer - als Lebensmittelpunkt, Heizzentrale und Begegnungsstätte in einem. Vielleicht auch als Wellnesstempel, Nachdenkort und auf jeden Fall als ein Holz und Glas gewordenes, gelegentlich nach einem Handtuch verlangendes Manifest für ein neues Wohnen. Für eines, das ohne Wohnzimmer auskommt.

Brandlhuber wohnt nicht in seinem Haus; er lebt darin. Im Anti-Wohnzimmer werden Gäste bewirtet, es wird Kunst betrachtet, auf den See geguckt und sauniert. Nur gewohnt - im gewohnten Sinn - wird nicht darin. Avantgarde halt.

Auch sonst ist das hier vermutlich die irrste Immobilie Deutschlands. Einst diente das Haus der DDR als Stofflager. Nebenan wurden Unterhosen fabriziert, die man in ihrer Gesamtheit nur als antikapitalistischen Anti-Sex-Schutzwall bezeichnen kann. Immerhin: Der Kalte Krieg wurde beim Anblick solcher DDR-Lingerie dankenswerterweise auch nicht heiß.

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Brandlhuber, der das so ökonomische wie ökologische wie mondäne Haus-Recycling erfunden haben könnte, ein herausragender Less-is-more-Interpret, hat das Haus einfach so gelassen, wie er es vorgefunden hat: nackt und aus Beton. Nach den Unterhosen beherbergte das Haus auch angehende Maurer. So sind Fenster entstanden - mal hier, mal dort, mal klein, mal groß -, wie sie nur adoleszente Lehrlinge im delirierenden Presslufthammer-Liebesrausch hinterlassen. Arno Brandlhuber nennt sein Haus "Anti-Villa".

Die Sauna befreit sich vom Dasein im Keller zwischen Bierkisten und Werkbank

Zu Recht, denn inmitten der benachbarten, raffaelloweiß verputzten, sich unter rote Walmdächer und hinter grünem Buchsbaumwahnsinn manierlich duckenden Pseudovillen wirkt die von einem gewaltigen Flachdach bekrönte Anti-Villa wie ein Affront aus Beton. Allein das Dach sieht aus wie der Flugzeugträger USS Independence. Kein Walmdach also. Kein Vorgarten. Keine Sprossenfenster. Und, Horror, kein Wohnzimmer. Kein Wohnzimmerschrank, keine Wohnzimmercouch, ja, nicht mal eine regenbogenbunte Suhrkamp-Wand. Dafür gibt es einen sehr viel freier interpretierbaren, beliebig veränderbaren, multifunktionalen Lebensraum, der nur eine Gewissheit kennt: die Sauna. Sie ist zugleich die Heizung für das gesamte Haus. Schwitze also in Frieden, Wohnzimmer!

So eine Neuinterpretation des einst wichtigsten Raumes in der Vorstellungswelt des bürgerlichen Wohnens war noch vor Kurzem eine Revolution. Doch inzwischen ist die Evolution des Wohnzimmers mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten. Auch eine Sauna inmitten des üblichen Wohnplüsches ist mittlerweile durchaus marktfähig. Die Firma Klafs, gegründet 1928 und Weltmarktführer im schon seit einigen Jahren boomenden Saunabau, der ein Kind der Wellness-Ära ist, hat deshalb auch eine Sauna als Möbel entworfen. Es lässt sich in den Wohnbereich integrieren. Neulich wurde es auf der Kölner Möbelmesse erstmals vorgestellt - und schon jetzt bestätigt Mark Böttger als Leiter der Unternehmenskommunikation: "Wir werden mit Nachfragen förmlich überrannt."

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"S 1" heißt das Saunamöbel. Der Form nach ist es ein Wandschrank, dessen Innenraum sich per Knopfdruck, dem Zoom-Objektiv einer Kamera ähnlich, entfalten kann. So vergrößert sich das Volumen von 60 Zentimeter Tiefe auf das Dreifache. S 1 gibt es in drei verschiedenen Breiten sowie in unterschiedlichen Designs und Materialien. Die billigste Version kostet 9900 Euro. Böttger sagt: "Die S 1 ist als mobiles System konzipiert. So kann die Sauna im Gäste-, Arbeits- oder sogar Wohnzimmer ihren Platz finden." Die Sauna befreit sich also von ihrem angestammten Dasein im Keller, irgendwo zwischen den Bierkisten und einer unter Spinnweben vor sich hin gammelnden Heimwerkerbank, auf die es mal im Baumarkt jenen Rabatt gab, der einen prompt vergessen ließ, dass man eigentlich noch nie als Heimwerker wiedergeboren werden wollte.

Die Sauna der Gegenwart besteht auch längst nicht mehr aus Fichtenholzlatten, die man in Selbstmontage zusammentackert, sondern aus breiter Glasfront und edlen Hölzern, etwa aus Nussbaum, Arve oder Zirbe. Auch andere Hersteller als Klafs haben sich inzwischen auf die Sauna als Interior-Objekt spezialisiert. Es gibt Beispiele aus Stein und Stahl, in allen möglichen Formen. Vormals verschwitzt, ist die Sauna heute: Design, Distinktionschiffre, Lebensstil. Man versteckt sich darin nicht, man geht in die Offensive.

Nebenher: Das führt zu ganz neuen Herausforderungen im Reich der Benimm-Regeln. Darf man als Gast der Hausfrau die Blumen schon reichen, während sie noch in der Sauna sitzt? Sollte man sich dazu auch ausziehen? Bringt man jetzt nicht mehr eine Flasche mittelteuren Sangiovese mit, sondern ein mittelteures Fläschchen Latschenkiefer-Aufguss?

Das sind so Fragen. Davon abgesehen geht aber die Ausweitung der Nacktzone wohl mit dem Niedergang des klassischen Wohnzimmers einher. Als die Hamburger Agentur Jung von Matt vor anderthalb Jahrzehnten unter Zuhilfenahme empirischer Untersuchungen und etlicher Interviews das "typisch deutsche Wohnzimmer" ermittelte, kam als absoluter Durchschnittswohnraum das fiktive Zimmer der fiktiven Müllers heraus. Die Agentur ließ es im Maßstab 1:1 nachbauen. Das ultimative Wohnzimmer der Deutschen besteht demnach aus einer derart intensiv safrangelben Couch, dass möglicherweise mit psychischen Spätschäden zu rechnen wäre, dazu aus Teppichboden - und auf dem Glastisch vor dem Sofa liegt eine weiße Blümchendecke. Gegenüber: ein mächtiger Wandschrank aus heller Eiche, halb Bauhaus-Missverständnis, halb Barock-Sehnsucht. Im Schrank selbst befindet sich nun kein Mann, der verzweifelt die Sauna sucht, sondern ein Fernseher. In den Regalen daneben sind Bücher zu sehen, etwa Dan Browns "Sakrileg".

Das Wohnzimmer der Zukunft ist nur noch "der Raum, wo nicht geschlafen wird"

Die Bücher und der Fernseher, vor dem sich die Familie versammelt, das sind schon die ersten Hinweise darauf, dass das Typische so typisch nicht mehr ist. Ikeas altehrwürdiges "Billy"-Regal wurde kürzlich auch deshalb verändert (die Fächer sind nun auch vertieft zu haben), weil sich Bücherregale in der digitalen Ära in Multifunktionsregale verwandeln. Ähnliches gilt für den CD-Turm und die DVD-Sammlung, auch das sind Dingwelten mit Verfallsdatum. Und der Fernseher wurde zwar immer flacher, zugleich aber größer. Vor allem jedoch ist er nicht mehr das vorherrschende Wohnzimmermöbel, denn immer öfter wird er einfach dort wie ein Bild an die Wand geschraubt, wo man ohne Dschungelcamp oder amerikanische Serien nicht mehr leben will: etwa beim Essen. Fernsehen aus dem Netz ist ein weiterer Beitrag zur Mobilmachung der stationären Ex-Glotze. Außerdem ist uns - siehe das erbarmungswürdige Schicksal von "Wetten, dass . . ?" - auch das einigende Fernseh-Event abhandengekommen.

Dazu kommt noch der rasante Niedergang der "Frankfurter Küche". Das ist jene rein funktionale Mini-Küche, die sich meist im Abseits der Wohnungen befand. Die aktuelle Renaissance der Wohnküche, also die Integration von Kochen, Essen und Geselligkeit, ereignet sich aber ebenfalls zulasten des klassischen Wohnzimmers. Wie man von jeder guten Party weiß, ist es in der Küche immer am schönsten. Logischerweise macht sie dem reinen Wohnzimmer das Wohnen nun auch im Alltag streitig. Gleichzeitig wird das Wohnzimmer, das im Biedermeier des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt als Hort bürgerlicher Wohnkultur erlebte, immer öfter überformt. Mal dient es nun als Arbeitsbereich, mal als Gästezimmer, mal eben auch als Wellness-Terrain. Oder es steht in den Diensten der Home-Fitness.

Die Stuttgarter Soziologin Christine Hannemann spricht daher von "Multifunktionalität". Das Wohnzimmer der Zukunft bezeichnet sie nur noch als "Raum, wo nicht geschlafen wird". Man könnte ergänzen: Raum, wo man zwar nicht schläft, sich aber paradoxerweise dennoch auszieht. Deshalb ist auch der Saunaschrank als Variante der Wohnschrankwand keine Überraschung. Auch die Architekten gehen bereits auf den wohnzimmerlosen Trend ein. Die Verfasser zeitgemäßer Wohngrundrisse planen gleich große, variable Räume, die je nach Lebenssituation mal dieser Notwendigkeit, mal jener Neigung entsprechen.

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© SZ vom 06.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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