Textilkunst:Frauen aus Tüll

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Benjamine Shine modelliert all seine Kunstwerke mit dem Bügeleisen. (Foto: @benjaminshinestudio)

Falten müssen nicht schlecht sein: Künstler Benjamin Shine bügelt sie absichtlich in meterlange Tüllbahnen. Die Modewelt feiert ihn dafür.

Von Dennis Braatz

Zu den wichtigsten Utensilien der Modewelt gehört zweifelsohne das Bügeleisen. Sekunden vor einer Show werden damit noch schnell kleine Sitzfältchen aus Kleidern beseitigt oder schlaff herabhängende Volants wieder auf den neuesten Stand gebracht. Sogar naturkrause Haare sollen Stylisten mit dem ein oder anderen Model schon mal in Ermangelung eines Glätteisens platt gemacht haben. Es gilt eben: Wehe dem, der knittert!

Umso erstaunlicher ist, dass die Modewelt gerade einen Mann feiert, der den ganzen Tag lang nichts anderes macht, als mit einem Bügeleisen Falten zu produzieren. Für die letzte Couture-Show von Maison Margiela hat der Brite Benjamin Shine nach diesem Prinzip ein Frauengesicht aus schwarzem Tüll moduliert. 300 Arbeitsstunden dauerte es, bis das knapp ein Meter hohe Gesicht fertig war. Anschließend wurde es auf die Vorderseite eines weißen Mantels angebracht. In der Show sah das zarte Gebilde dann aus, als ob es jederzeit vom Winde verweht werden könnte. Das Foto des Looks wurde in den sozialen Medien unzählige Male geteilt, versehen mit #breathtaking .

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"Ich male Bilder mit Stoff", erklärt Shine sein Handwerk. Weil Tüll transparent ist, entstehen beim Übereinanderlegen Schattierungen. Je mehr Lagen übereinander, desto dunkler der Ton des Tülls. Weil ein Bügeleisen heiß ist, bleibt der Tüll da, wo Shine ihn haben will, den Effekt kennt man von der klassischen Bügelfalte. Dass diese Technik aber eine so dreidimensionale und realistische Wirkung erzielt, ist überraschend. Kaum zu glauben auch, dass der 39-Jährige den Tüll nie mit einer Schere zurechtrückt.

Den Umgang mit Stoffen hat Benjamin Shine schon früh gelernt. Seine Familie kommt aus der Textilbranche. Sein Urgroßvater war Schneider. Er selbst hat am renommierten Central Saint Martins College of Art and Design Modedesign studiert. "Ich wollte immer etwas mit Stoffen machen, nur nicht direkt am menschlichen Körper."

Nach seinem Abschluss im Jahr 2000 fing er deshalb mit dem Experimentieren und ersten Skulpturen an. Er setzte Metallösen nach dem Mahlen-nach-Zahlen-Vorbild auf Leinwände, verband sie mit bunten Fäden und skizzierte so die Gesichter von Prominenten wie Audrey Hepburn oder Winston Churchill. Er zerschnitt die amerikanische Flagge in schmale Stoffbahnen und stickte aus ihnen das Konterfei von Barack Obama; das Bild wurde zu dessen Inauguration im Jahr 2009 im Museum of Arts and Design in New York ausgestellt.

Irgendwann sah Shine ein geknülltes Stück Tüll auf seinem Atelierboden liegen. Die Linien und Farbabstufungen in dem achtlos drapierten Stoff brachten ihn auf die große Idee - Malen mit Tüll. Während aber ein klassischer Maler erst mal Farbe auftragen muss, gibt der Stoff schon viel vor. Er selbst formt nur noch. "Das hat doch etwas sehr Poetisches", sagt er. Mal ganz davon abgesehen, dass Tüll für ihn wie kein anderes Material für Zerbrechlichkeit, Weiblichkeit, Fantasie und Bewegung steht, und damit übrigens auch für die Haute Couture.

Shine pinnte zehn bis 50 Meter lange Tüllstücke auf wandgroße Leinwände und legte einfach los. Bis die ersten Bilder wirklich realistisch aussahen, brauchte es Hunderte Bügelanläufe. So etwas wie Basishandgriffe gibt es bis heute nicht. "Der Entstehungsprozess eines Motivs besteht eigentlich nur darin, dass man ausbessert, was nicht realistisch aussieht", sagt er. Auffällig ist, dass seine Tüllgesichter im Laufe der Jahre immer detailreicher geworden sind. Von gehauchten Halbprofilen zu Portraits von Prinzessin Diana oder Liz Taylor, vergängliche Schönheiten, die Shine hinter Glas rahmt, um die fragilen Falten haltbar zu machen.

Tüllgesichter als Metaphern für den Zeitgeist

2012 beauftragten ihn die Kuratoren der Londoner Designwoche mit einem 15 Quadratmeter großen Motiv von zwei übereinander liegenden Händen. Ein britischer Geschäftsmann wollte daraufhin das Foto seiner Frau nachgebastelt bekommen. Und dann kam plötzlich Riccardo Tisci um die Ecke, damals noch Chefdesigner bei Givenchy. Für eine seiner unregelmäßig stattfindenden Couture-Kollektionen wollte er Madonnen-Motive aus Tüll auf Sweatshirts und T-Shirts bringen. "Ich hatte Gesichter zuvor noch nie so klein dargestellt. Aber das hat mir einen völlig neuen Bereich eröffnet", sagt Shine.

Die Show vor knapp drei Wochen war für Shine also bereits die zweite Couture-Kooperation. Vielleicht war das Medienecho bei Givenchy damals nicht ganz so groß, weil die Madonnen-Motive am Ende doch eher schwer zu erkennen waren. Vielleicht aber auch, weil Modenschauen damals noch nicht so stark in den sozialen Medien geteilt wurden.

Zumindest treffen Shines Tüllgesichter jetzt sehr gut den Zeitgeist. Viele Branchenexperten sahen in dem großen Tüllgesicht bei Margiela auch eine Kritik am grassierenden Selfie-Wahn. Für die Modewelt mit ihren glattgebügelten Influencern und Bloggerstars ist so ein vergängliches Konterfei tatsächlich eine schöne Metapher. Sie erinnert daran, dass Schönheit immer eine Momentaufnahme ist - und eben auch mal aus den sonst so gefürchteten Falten entstehen kann.

© SZ vom 11.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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