Street Food 1.0:Lieber Bauchladen

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Kürbishaufen, Kartoffelnetze und Konfitürenkisten: Der Herbst ist die Zeit der Straßenstände. Höchste Zeit für eine Würdigung dieser charmant einfachen Versorger.

Von Max Scharnigg

Wo Deutschland ausfranst, gibt es noch mal eine Halbinsel. Das ist die Höri, sie liegt im Bodensee, gehört schon fast zur Schweiz und ist superlieblich. In diesen goldenen Wochen bietet sie die besten Voraussetzungen für ein unterhaltsames Straßenstand-Hopping: Sie ist dünn besiedelt, fruchtbar und von recht selbstbewussten Menschen bevölkert. Menschen, die ein bisschen stolz sind, dass Hermann Hesse hier einst sein Wohnhaus baute, und sehr stolz, dass es hier bis heute eine autochthone Zwiebelsorte gibt, so mild, dass man sie essen kann wie einen Apfel.

In einem derart gesegneten Landstrich fährt man also herum, von Aussicht zu Aussicht und kauft nebenbei ein, ohne dabei durch eine Ladentür zu gehen. Bemannte und unbemannte Stände mit Äpfeln und Birnen sind allgegenwärtig, dann kommt ein alter Tisch in einer Parkbucht, auf dem irgendwer Walnüsse in weißen Plastikeimern bereitstellt. Weiter oben, wo man weit auf den See und hinüber zur Insel Reichenau sieht, gibt es einen Stand mit Marmeladen, alle sauber beschriftet: Quitten, Zwetschgen, Kürbis-Chutney. Wieder hinunter, kurzer Halt im Ort Öhningen beim Unterbühlhof-Hof der Familie Fischer, wo ein Schuppen einen ganzen kleinen Bauernhof-Supermarkt bietet - wenn niemand kommt, Geld bitte abgezählt in die Kasse! Weiter, zu den Kürbishaufen an der Hauptstraße - oder doch die berühmte Zwiebel suchen? Einkaufen kann spannend sein, denn wenn die Drive-by-Kultur so ausgeprägt ist wie hier, gerät eine Landpartie unversehens zur Schatzsuche. Was gibt's denn noch?

Es macht Spaß, eine Gegend auf diese Weise kennenzulernen, sich die Landschaft quasi Stück für Stück in den Kofferraum oder den Rucksack zu legen und ihr dann später zu Hause nachzuschmecken. Der unbemannte Straßenstand ist der wilde Bruder des Hofladens, der stumme Außenposten des Bauernmarktes, er ist Pflichtstopp für Ökokisten-Abonnenten und für die Generation der verhinderten Selbstversorger in den Städten ein lohnendes Ausflugsziel. So authentisch, saisonal und regional kauft man in der Stadt schließlich nie ein.

Die Verkaufsstände am Straßenrand sind wie kleine Schaufenster der Landschaft. (Foto: Mauritius Images)

Keiner der Stände sieht aus wie der andere, für die kleinste Form des Einzelhandels existiert keine Norm

Außerdem sind diese kleinen Warentische auch Botschafter ihrer Landschaft, gehört das, was dort angeboten wird, ganz unmittelbar zur DNA einer Region, es bildet ab, was das Land gerade hergibt. Die Stände transportieren also genau das Erlebnis, nach dem man bei einem Ausflug oder einer Reise trachtet. Man steigt aus, atmet, hebt einen staubiges Netz Kartoffeln aus dem Holzverschlag, sieht im Idealfall den dazugehörigen Acker, lässt Münzen in eine Dose klimpern und packt bei diesem kurzen Stopp doch mehr ein als nur Kartoffeln. Im Supermarkt wäre man an dem, was die Erde hier hervorbringt, vielleicht achtlos vorbeigegangen oder wüsste es gar nicht. Aber die essbaren Souvenirs an der Straße mit ihrer simplen Botschaft wirken auf den Anfälligen besser als eine Notbremse.

Ein Umstand, der weltweit genutzt wird. In Neuseeland warten am Straßenrand zur richtigen Zeit saftige Feijoa-Früchte, auf der schwedischen Insel Gotland täuscht ein engagierter und engmaschiger Bio-Straßenstrich mit Kaffee in Thermoskannen, Eiern, frischem Dill, Fruchtsäften und sogar diversem Kunsthandwerk über die eher dünne Infrastruktur hinweg. Und in Dänemark suchen Angler morgens nach kleinen Thermoboxen mit dem krakeligen Schild "Orm". Meistens sind es Kinder, die damit einen schwunghaften Wattwurm-Handel betreiben.

Schön: Keiner dieser Verkaufsstände sieht aus wie der andere, keine Norm, keine Fertiglösung gibt es für diese kleinste Form des Einzelhandels, mal es ist ein Pritschenwagen, mal ein liebevoll gezimmertes Häuschen, oft auch nur ein alter Schrank, in dem die Ernte liegt und vielleicht ein paar kleine Blumensträuße. Allen Lösungen gemein ist aber die Kasse, die den Verkäufer ersetzt und die je nach lokalem Sicherheitsempfinden geschützt ist. In Schweden ist es oft nur ein ausrangierter Briefkasten, in Deutschland gerne ein eingeschweißter, betonierter und verplombter Eigenbau, und in Italien taucht nicht selten dann doch noch ein leibhaftiger Großvater hinter dem Anhänger voller cipolle rosse auf und kassiert für die roten Zwiebeln.

Die Straßenstände machen einen Ausflug nahrhaft und schärfen das Bewusstsein dafür, was wann eigentlich wo wächst und hergestellt wird. (Foto: Bernd Hartung/Agentur Focus)

Das eigenverantwortliche Bezahlen ist das Wichtigste, was die Stände neben ihrem kleinen Warenangebot noch transportieren. Es ist mit schuld an diesem grundguten Gefühl, das der Besuch beim Straßenstand beim Käufer hinterlässt. Der amerikanische Sozialpsychologe Michael Cunningham hat das in einer Arbeit ausgelotet: Ein stummer Kassierer, auf englisch passend honor box genannt, erzeugt ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Produzent und Käufer, eines, das inniger ist als beim herkömmlichen Waren-Geld-Tausch. Der Käufer bekommt nicht nur gute Ware, sondern auch gutes Gefühl, nämlich dass ihm hier an dieser unbewachten Kasse jemand vertraut. Der Bauer geht in Vertrauensvorleistung, er versieht auf eigenes Risiko die Straße mit seinem Produkt der Stunde, und im Gegenzug für dieses Zutrauen in die Mündigkeit der Vorbeifahrenden wickeln die den Handel korrekt ab und haben Glücksgefühle. Win-win! Zumindest wenn man zu den 50 Prozent der Menschheit gehört, die bei einer "Honor-Box"- Studie des US-Wirtschaftswissenschaftlers Paul Zak als immer oder meistens ehrlich klassifiziert wurden.

Der Kürbis eignet sich perfekt für dieses Geschäft, er lässt sich klaglos und wetterfest aufschichten

Aber wer sich unfair an einem Korb Äpfel oder einem Kürbis bereichert, der kann sie vermutlich ohnehin nicht genießen. Denn nur beim ehrlichen Käufer bleibt ein Gefühl, das Richtige zur rechten Zeit gekauft und einen unsichtbaren Handschlag mit dem Produzenten ausgetauscht zu haben. Noch dazu, wenn er davon ausgehen kann, dass der Landwirt sich durch diese Lösung Zeit spart und seiner eigentlichen, sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen kann.

Seit der Kürbis in Deutschland etwas geworden ist, das man im Herbst unbedingt erlebt haben muss, hat Straßenrand-Shopping hier auch wieder eine größere Lobby. Der Kürbis eignet sich nun mal perfekt für dieses Geschäft, er lässt sich einen Monat lang klaglos und wetterfest auf einen Haufen schichten, wirbt dabei mit Signalfarbe für sich selbst und ist von der Natur mit einem praktischen Henkel ausgestattet worden, mit dem er sich nutzerfreundlich in den Kofferraum heben lässt. Natürlich wäre es noch ein bisschen toller, eine eigene Kürbispflanze wachsen zu sehen und den gemütlichen Boller nur vom Beet ins Haus zu tragen, aber ganz ehrlich, diese Haufen an der Landstraße sind ein veritabler Ersatz. Denn sie verlangen ja doch noch etwas mehr Engagement als die Gemüseabteilung im Supermarkt. Eigentlich ist es mit den Kürbishaufen wie beim Christbaumkauf: Die Suche nach dem einen Exemplar, das auf einen gewartet hat, macht den halben Reiz aus. Man wühlt engagiert in diesem Bällebad der Natur und entdeckt schließlich seinen eigenen Bilderbuch-Kürbis, gefunden unter Dutzenden, hurra. Selbstbefriedigung für alle Landlüsterne.

Es ist die kleinste Form des Einzelhandels - und es existiert keine Norm dafür: Jeder Verkaufsstand sieht anders aus. (Foto: Mauritius Images)

Wieso nicht Leih-Schaufeln an den Acker stellen, damit man selbst die Kartoffeln ausgraben kann?

Und dass die Haufen da auch sonntags und zu unorthodoxen Tageszeiten den Einkauf ermöglichen, macht den kleinen Kitzel perfekt. Derartige Lässigkeit ist man in Deutschland schließlich nicht gewohnt, es geht dabei ja auch irgendwie um Lebensmittel. Tatsächlich aber hält die Gewerbeordnung so eine Art schützende Hand über die Straßenstände oder zumindest das, was im Amtsblatt der "Landwirtschaftlichen Urproduktion" zuzuordnen ist. Damit sind eigene Erzeugnisse gemeint, die nicht mehr als eine Bearbeitungsstufe erfahren (gepresster Apfelsaft, zum Beispiel, ginge auch). Sie dürfen ab Hof oder eben vom Acker weg verkauft werden, ohne dass der Amtsschimmel übermäßig die Nüstern bläht. Für Marmeladen greift die sogenannte Konfitürenverordnung, die ebenfalls noch übersichtlich ist. Alles, was komplexer ist, ist für den Straßenrand nicht mehr qualifiziert. Aber das reicht ja auch. Wenn man sich etwas wünschen dürfte: ein bisschen mehr Direktvermarktung jenseits des Kürbis, ein paar krumme Gurken vielleicht oder Salatköpfe. Oder gleich noch einen Schritt weitergehen und nur noch ein paar alte Leih-Schaufeln an den Kartoffelacker stellen. Sollen die Landfreunde doch selbst ihre Kartoffeln und Karotten ausgraben, rote Backen gibt's dann gratis dazu, und bei den Blumenfeldern funktioniert das doch auch.

Die berühmte Bülle-Zwiebel auf der Höri lag dann übrigens an keinem Straßenstand. Dafür ist sie doch ein bisschen zu begehrt, erfährt man bei der Gärtnerei Duventäster-Maier in Moos. Und hört deutlich raus, dass bei mäßiger Ernte die Zwiebel überhaupt nicht gern an Durchreisende verkauft wird. Manchmal will eine Region ihre Schätze eben auch für sich behalten.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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