Sommelier:Mein Name ist Nase

Sommelier für Fleisch, für Wasser

Nicht nur für Fleisch, auch für Wasser gibt es Sommeliers - wie etwa den Experten Arno Steguweit (r).

(Foto: immago stock / Bolk PR)

Ob Öl, Brot, Wasser oder Nüsse: Sommeliers gibt es heute für alles. Warum eigentlich? Über die erstaunliche Karriere eines zweifelhaften Berufsstandes.

Von Marten Rolff

Eine Geschichte der Sommeliers müsste eigentlich in Frankreich beginnen. Doch um die schier unglaublichen Fortschritte zu ermessen, die der Gaumen der Menschheit in den vergangenen 30 Jahren gemacht zu haben scheint, kann man ebenso gut in der ostenglischen Provinz starten. Zum Beispiel in der Kleinstadt Fakenham, wo Mitte der Achtzigerjahre und inmitten von verrauchten Traditionspubs urplötzlich die erste Weinbar eröffnete.

Bis heute erzählen manche Fakenhamer amüsiert, wie die Menschen sich damals das Maul zerrissen über die neue mutmaßliche Chichi-Adresse, über Chianti statt Real Ale. Und wie die Handvoll Bonvivants des Städtchens, die sich schließlich vorwagten in diese Weinbar, dort dann auf keinen Sommelier, dafür aber auf einen höchst geerdeten Kellner trafen: "Ihr wollt die Weinkarte? Haben wir nicht. Ist auch unnötig! It's red or white, isn't it?"

Der Metzgermeister heißt jetzt Fleischsommelier

Irgendwann nach dem Weinfrevel von Fakenham muss sich dann eine Art sensorischer Quantensprung ereignet haben. Und um eben dessen ganzes Ausmaß zu begreifen, muss man sich weder in der Pariser Haute Cuisine umtun, noch auf einer Sommelier-Party im Napa Valley. Es reicht ein Besuch der Käsetheke des V-Markts in Neugablonz im Allgäu. Dort kümmert sich Claudia Weigelt, als mittlerweile dritte Käsesommelière der Supermarktkette, zum Beispiel darum, dass ihre Mitarbeiter wissen, wie sich Heu- oder Maisfütterung auf das Aroma von Bergkäse auswirken. Oder darum, dass Kunden Antwort erhalten auf so drängende Fragen wie: Welches Craftbier passt zur zarten Nussigkeit von sechs Monate gereiftem Emmentaler?

Auch Weigelts Kollege Mario Fendt hat bei der Genussnachhilfe nicht getrödelt. Fendt ließ sich gerade zum Fleischsommelier weiterbilden, ging alles zack zack, zehn Tage Seminar an der Fachakademie in Augsburg, fertig. Wieso selbst hochqualifizierte Metzgermeister für die Kundenberatung an der Grilltheke neuerdings einen Sondertitel benötigen? Das erfährt man - in sanft euphemistischer Beugung der Etymologie - aus dem V-Markt-Kundenmagazin: "Sommelier heißt so viel wie Botschafter des guten Geschmacks!"

Doch lassen wir den Übersetzungsfreistil im deutschen Einzelhandelsmarketing ruhig beiseite. Eins ist mal sicher: Der Berufsstand des Weinkellners hat eine beneidenswerte Karriere durchlaufen. Dabei waren die Anfänge wenig glamourös. Im Frankreich des 14. Jahrhunderts war der Sommelier nicht Botschafter des guten Geschmacks, sondern Führer der Lastentiere (bêtes de somme). Und weil der auch oft durch die Weinberge kam, übernahm er die Getränkeversorgung bald mit, wurde Mundschenk und schließlich Weinkellner, zuständig für Auswahl und Empfehlung der richtigen Flasche im Restaurant.

Er wurde gern bewitzelt und stand lange unter Snobverdacht. Nun ist er so edel gereift wie sonst nur ein Château Lafite - zum Vorbild einer ganzen Branche. Was auch daran liegt, dass er sich zuletzt sogar von der Haute Cuisine emanzipierte. Der einstige Flaschenträger des Starkochs eröffnet heute gern eigene Lokale, wo nicht der Wein das Essen, sondern das Essen den Wein begleitet. Bei Weltmeisterschaften, Showverkostungen oder in TV-Jurys pflegt mancher Sommelier nun ein Rockstar-Image. Kein Wunder also, dass mittlerweile jeder Würstchenbrater gern so einen Titel hätte.

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung rechnete kürzlich vor, dass sich in gängigen Printmedien die Zahl der Artikel, in denen der Begriff Sommelier auftaucht, binnen fünf Jahren verdreifacht hat. Es muss sich um ein enorm wichtiges Thema handeln. Sommeliers, wohin man auch blickt. Frühere Exoten wie der Wassersommelier haben nun reelle Chancen auf einen Platz in der Mitte der Gesellschaft.

Vor zehn Jahren wäre sie bei "Wetten, dass..." gelandet, heute ist sie Nusssommelière

Glaubt man "Europas erstem Wasser-sommelier" Arno Steguweit, dann sind für die Wortschöpfung zumindest dieser Spezialdisziplin die Medien verantwortlich. Zu faszinierend war es, dass da ein Weinkellner bei Tisch plötzlich auch 42 Mineralwassersorten kommentieren sollte, nur weil ein Restaurant im Berliner Hotel Adlon seine Getränkekarte erweitert hatte. Die Folgen? Mit seltsamer Selbstverständlichkeit empfiehlt der Service in manchem Lokal heute "Cloud Juice" zum Käse, extrem weiches Regenwasser von einer Tasmanien vorgelagerten Insel. Und die Gäste fragen sich immer seltener, ob das absurd ist, aber dafür immer öfter, was wohl Claudia Weigelt von der Käsetheke in Neugablonz mit Cloud Juice kombinieren würde.

Die Zahl deutscher Biersommeliers ist längst vierstellig, und auch der Brotsommelier schon etabliert - als letzter vertrauenswürdiger Anker des Bäckereikunden in Zeiten von chinesischen Turboteiglingen und genmanipuliertem Getreide. Es gibt selbstverständlich auch Sommeliers für Tee, Kaffee, Öl und Schokolade. Erst vor drei Monaten schloss an der IHK Bremerhaven der erste "Jahrgang" deutscher Fischsommeliers ab. Und fränkische Zeitungen berichteten von einer Frau, die beim Schütteln von Walnüssen angeblich am Klang erkennt, aus welchem Land die Nuss stammt. Vor zehn Jahren wäre sie damit bei "Wetten, dass..." gelandet. Heute ist sie, na klar, Nusssommelière.

Eine Gesellschaft, die mehr und mehr den praktischen Bezug zum Essen verliert, begibt sich in die Hände eines Heeres von Vorkostern und vorgeblichen Genussexperten, mal mehr, mal weniger zertifiziert? Das muss erst mal nicht schlecht sein, verursacht die Auswahl im Lebensmittelregal doch schon lange Synapsenbrand, und das Wissen um unsere Nahrung wächst rasant. Zwischen brasilianischer Picaña (Tafelspitzzuschnitt), kolumbianischer Grand-Cru-Schokolade, norwegischem Aquakulturlachs, gefühlten 56 kenianischen Kaffeesorten und ebenso vielen Röstverfahren ist seriöse Anleitung ein Segen. Andererseits ist das ausufernde Storytelling zur Aufzucht Schwäbisch-Hällischer Eichelschweine oder den Vorzügen artesischen Islandwassers kaum noch zu ertragen.

Der Deutsche verlässt sich lieber auf einen Sachverständigen

Leider ist das Klima für Genusstitel in Deutschland besonders günstig, steht der Deutsche doch im Verdacht, sich lieber auf einen wie auch immer diplomierten Sachverständigen zu verlassen als auf seinen Gaumen. Speziell zu Sommeliers pflegt er eine Art lustvolle Hassliebe. Die masochistische Geduld, mit der mancher hierzulande auf das Expertendiktum zur Restsüße von Riesling wartet, gilt als ebenso notorisch wie der stümperhafte Sadismus, mit dem andere den Sommelier unterbrechen: "Lassen Sie mal, da kenne ich mich aus, ich fahre regelmäßig ins Sauvignon blanc."

Interessanterweise wird mit dem Sommelier ausgerechnet ein Titel populär, der nur vermeintlich verlässlich ist. Geschützt ist er nicht. Da können sich Industrie- und Handelskammern noch so viele Seminarmodule ausdenken. Theoretisch darf sich jede Marktfrau mit gekräuselter Nase in ihre Rotkohlauslage werfen und rufen: "Treten Sie näher, riechen und tasten Sie! Alles frisch von der Blaukrautsommelière!" Wahre Profis sehen die Titelinflation als Problem. Schließlich ist es in ihrem Job mit zwei Wochen IHK nicht getan. Ein guter Weinkellner ist eine Spitzenkraft mit fundierter Ausbildung, Persönlichkeit und lebenslanger Fortbildung. Es könne nicht angehen, dass "sich jeder heute Sommelier nennt", ärgerte sich der Chef der deutschen Sommelier-Union in Interviews.

Die Herren von der Sommelier-Union sollten sich entspannen. Die Titelinflation wird sich schon selbst abschaffen. Je mehr Kaugummi-Sommeliers auf den Plan treten, desto schneller lernen Gast und Kunde, zwischen guter und schlechter Beratung zu unterscheiden. Der britische Guardian stellte kürzlich in einem großen Porträt den Amerikaner Philip Wolf vor. Seine Berufung: Marihuana-Sommelier. Wolf kombiniert gern schwarzen Afghanen zu Heilbutt mit Pistazienkruste. Ach ja. Schon bei der Lektüre wünschte man sich umgehend den Kellner aus der Weinbar in Fakenham zurück: "It's red or white, isn't it?" Was wäre das für eine Erleichterung.

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