Schuhe:Feiner Auftritt

Die Schuhe von Ludwig Reiter sind ganz schön teuer und werden umständlich hergestellt - aber gerade deshalb sind sie so begehrt. Ein Manufakturbesuch.

Von Max Scharnigg

Wenn man die Augen schließen und sich vorstellen müsste, an welchem Ort ein Wiener Traditionsschuhmacher seine Produktion hat, dann käme wohl ziemlich genau das raus: Ein charmant bröckelndes Gut vor den Toren der Stadt, inklusive eines kleinen Renaissanceschlosses - eine verwunschene Anlage, die noch ganz den Zauber der k. u. k. Ära atmet. Dabei ist Till Reiter mit seinen Schustern erst vor sieben Jahren hier auf den Gutshof Süßenbrunn gezogen. Hat dafür einen eigentlich zu großen Kredit aufgenommen und die verfallenen Stallungen zu einer Manufaktur ausgebaut, an deren Anfang große Stücke Kalbs-, Juchten- oder Pferdeleder liegen und am Ende jene Schuhe stehen, die unter der Marke Ludwig Reiter heute wieder weltweit Begriff für klassische Schuhmacherkunst sind.

"Diese Gebäude hier hatten einfach eine Struktur, die uns sympathisch war, wir mussten fast nichts neu bauen, sondern konnten uns darin ausbreiten", sagt Till Reiter bei einem Spaziergang über die malerische Anlage. Er kommt an diesem Freitag gerade aus Japan, wo man die handwerklichen Details seiner Schuhe besonders schätzt. "Tragen sie jetzt alle viel zu groß, die Japaner. Das ist da gerade der Stil. Dünne Männerbeine mit riesigen Budapestern", wundert sich der Firmenchef, aber nicht allzu sehr, er hat seine Erfahrungen mit der hohen Mode gemacht.

Im einstigen Melkhaus sitzen seine Mitarbeiter und arbeiten an Maschinen, die oft älter sind als sie - die Formen der Schuhe sind klassisch, und ihre Herstellung ist es eben auch. Ein Gerät, das zu Beginn die Leder effizient zuschneidet, gehört da schon zu den modernsten Errungenschaften. Danach aber wird wie früher gestanzt, geschnitten, genagelt, genäht und geklopft, in dem lichten Mauergewölbe erklingt eine Handwerker-Symphonie, deren Grundrhythmus eine imposant ratternden Maschine beisteuert, an der Schuhboden und das Oberteil zusammengenäht werden.

Die Amerikaner schickten nach dem Krieg Nähmaschinen für den Wiederaufbau

Dieser Arbeitsschritt ist der Kern der sogenannten Goodyear-Machart, die nach ihrer Erfindung Ende des 19. Jahrhunderts die Schuhherstellung den entscheidenden Schritt weitergebracht hat. Denn davor war das Vernähen der dicken Leder per Hand aufwendig und kraftraubend. Ludwig Reiters Großvater hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg als junger Mann eine solche Spezialnähmaschine aus den USA nach Wien gebracht und damit die Schuhfabrik Ludwig Reiter modernisiert, die damals bereits seit fast 25 Jahren Schuhe für gehobene Kreise produzierte. Es sollte nicht die einzige amerikanische Nähmaschine bleiben, die das Unternehmen veränderte. Denn einen Krieg später wurden zum Wiederaufbau im Rahmen des Marshallplans Singer-Nähmaschinen von den Amerikanern nach Wien geschickt. Großvater Reiter nahm die Produktion damit wieder auf. Aber das Umfeld hatte sich verändert - von den mehr als 100 Schuhmacherbetrieben in Wien waren nur noch sehr wenige übrig geblieben. Schuld waren die steigenden Lohnkosten und die aufkommende Klebezwicker-Massenproduktion, bei der keine Nadel, kein Schuhmacher mehr notwendig waren.

Till Reiters Vater, der das Unternehmen 1960 übernommen hatte, versuchte deswegen, einen anderen Markt zu bedienen. Er konzentrierte sich auf bequeme Senioren- und Berufschuhe, auf Kunden also, die den Wert einer solide gearbeiteten Ware noch zu schätzen wussten. So liefen in diesen Jahrzehnten viele Wiener Kaffeehaus-Ober täglich ihre Strecken in Schnürstiefeln von Ludwig Reiter. Die Firma konnte sich halten - wenn auch mit einem Sortiment, das unter Fantasiemarken wie "Fox Medana" angeboten wurde und weit entfernt war von der Eleganz der Schumacher in London oder New York, mit denen Ludwig Reiter heute wieder konkurriert. "Ich hab mich damals geschämt, in der Schule, weil meine Familie diese Omaschuhe gemacht hat. Ich wollte auch lieber Turnschuhe haben, aber das hat mein Vater nicht eingesehen. Wir haben genug Schuhe! Das war sein Satz", erinnert sich Till Reiter.

Um Abstand zwischen sich und den Familienbetrieb zu bringen, ging er zum Studieren in die USA. Dort machte er, Anfang der Achtzigerjahre, die Entdeckung, dass es dort anders als in Österreich durchaus einen Markt für moderne, rahmengenähte Schuhe gab. Der New Yorker Schuhmacher Alden etwa stattete damals die aufstrebende Wallstreet-Klientel mit teuersten Modellen aus. Zu dieser Zeit war Ludwig Reiter einer der wenigen Betriebe in Europa, der noch rahmengenähte Schuhe anfertigte. Till Reiter wagte nach seiner Rückkehr schließlich einen Versuch und stieg in vierter Generation in das Familienunternehmen ein.

Der urige Stiefel mit Filzschaft wird zum Statussymbol in den exklusiven Wintersportorten

Statt nur auf Bequemschuhe für Senioren und Vielgeher, setzte er darauf, dass auch hier Männer in den neuen Yuppie-Anzügen die passenden Schuhe brauchen würden: Brogues, Oxfords, Budapester. "Ein Glück war, dass wir die Leisten aus den ersten Jahrzehnten unseres Unternehmens noch im Keller hatten. Und dass es immer noch Menschen im Betrieb gab, die wussten, wie man solche Schuhe macht." Tatsächlich hatte die Schuhfabrik Reiter seit hundert Jahren durchgehend produziert, nur mussten jetzt die Welt und auch die Firma selbst wieder an den Glanz der frühen Jahre erinnert werden. "Ich ging durch die Stadt und hatte eine einfache Regel: Ich wollte die Reiter-Schuhe in all den Auslagen stehen haben, die ich mir nicht leisten konnte", erklärt Till Reiter seine damalige Marketingstrategie. Gleich zu Beginn wurde er etwa beim edlen Wiener Herrenausstatter Knize vorstellig, der gerne einige der Schuhe in sein Sortiment aufnahm - und Reiter bald deutlich aufforderte, in größeren Maßstäben zu denken.

Till Reiter ging aufs Ganze, kaufte einen zusätzlichen Betrieb in Oberösterreich und begann, sein Sortiment zu erweitern - die sterilen Komfortschuhe wurden weniger, dafür kamen markante Modelle wie der Maronibrater-Stiefel und der Turnschuh "Trainer" dazu. Das waren nicht unbedingt klassische Rahmengenähte, sie wurden aber Meilensteine in der jüngeren Firmengeschichte. Denn der urige Maronistiefel mit Filzschaft wurde bald zum Statussymbol in den gehobenen Wintersport-Orten - und der schlichte Sneaker aus Kalbsleder zum mondänen Vorläufer der Retro-Turnschuhwelle.

So begann das dritte Leben der Firma Ludwig Reiter, und wesentlicher Geburtshelfer war dabei auch ein gewisser Helmut Lang. Dem Modeschöpfer, der in den Neunzigerjahren binnen kurzer Zeit Kultstatus erlangt hatte, war eines Tages ein Schuh seines Großvaters aufgefallen, den er für seine neue Kollektion remixen wollte. Dieser Schuh von Opa Lang war in den Fünfzigerjahren von Ludwig Reiter gemacht worden und bildete nun den Auftakt zu einer langjährigen Zusammenarbeit der beiden österreichischen Stil-Handwerker. Auf einmal war Ludwig Reiter auf den Catwalks und in den Boutiquen der ganzen Welt, es folgte eine Kooperation mit Werner Baldessarini, damals der Chef von Boss. Die lagerten ihr neues Schuhgeschäft so lange an Ludwig Reiter aus, bis das Unternehmen in Wien an seine Quantitäts- und Qualitätsgrenze stieß.

"Heute denken wir nicht mehr ständig daran, unsere Stückzahl zu erhöhen. Wir gehen sehr vorsichtig mit unserem Sortiment um", sagt Till Reiter und beobachtet das Treiben im Werksverkauf, der heute auch in dem Schlosspark liegt. Väter suchen dort für ihre Söhne die ersten Rahmengenähten aus, Damen schlüpfen probeweise in klassische Halbschuhe auf Wiener Leisten, die nur zwanzig Meter weiter genäht wurden. Ein kleines Sortiment an Lederwaren ist in den vergangenen Jahren ebenso dazugekommen wie eigene Boutiquen. Die Produktion liegt heute bei etwa 30 000 Paar Schuhen pro Jahr, die Preise für die Klassiker beginnen bei 500 Euro. Das Geschäft läuft, weil die Menschen und auch die Mode heute wieder mehr Wert auf Qualität und Tradition legen, sagt Till Reiter. Als Kaufmann muss er zugeben, dass ein derart solide gearbeiteter Schuh nicht das effizienteste Produkt ist, er hält lang und lässt sich immer wieder reparieren. Auf dem Gesicht des sanften, großen Mannes spiegelt sich bei dieser Erkenntnis heitere Ratlosigkeit: "Aber was wäre die Alternative? Schlechte Schuhe herstellen?"

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