Samstagsküche:Schäumender Patriotismus

Woman selling traditional Russian drink Kvas, Kaliningrad, Russia

Traditionell wird Kwas in Russland aus gelben Tankwagen ausgeschenkt. Fast drohten sie, aus dem Stadtbild zu verschwinden, nun gelten sie als sympathischer Anachronismus.

(Foto: Caro/Bastian)

Die Anti-Cola: In der Wirtschaftskrise besinnt sich Russland auf ein Traditionsgetränk. Kwas entsteht aus gegorenem Schwarzbrot, schmeckt malzig-frisch und ist so beliebt wie nie.

Von Frank Nienhuysen

Wie man ein kleines Mädchen zum Weinen bringt, das weiß der russische Getränkehersteller Deka. Er lässt einfach eine gruselige Gestalt an die Wohnungstür klopfen, einen Mann mit dem schwarz-weißen Make-up des Kiss-Bassisten Gene Simmons. Der unheimliche Fremde tritt also in den Gang, lässt seine verstörend lange Zunge vibrieren und streckt dem Kind eine Flasche Cola entgegen. Das gibt natürlich Tränen. Die Szene stammt aus einem Werbefilm, und die Firma hat Cola gar nicht im Angebot. Dafür weiß sie, wie man dem verschreckten Mädchen sofort die heile Welt zurückbringt. Denn nun springt aus dem Nichts der Papa in den Gang und konkurriert mit einer Flasche Kwas. "Nein zur Colanisierung" - spricht die Stimme aus dem Off, "Kwas ist die Gesundheit der Nation."

Der Geschmack von Kwas erinnert an Radler oder Malzbier, nur säuerlicher

Kwas gegen Cola. Der ideologisch aufgeladene Spot passt fließend in unsere Zeit, in der sich Russland im Zwist mit dem Westen auf seine traditionellen Werte besinnt. Kwas, Wodka, Tee: Das sind seit Jahrhunderten die drei Säulen russischer Trinkgewohnheiten. Tee gibt es nach jeder Mahlzeit, Wodka ist das alkoholische Getränk, das sogar russische Großmütter ohne mit der Wimper zu zucken schon am Mittag ihren Gästen anbieten. Und Kwas hilft gegen den Durst. Der Name Kwas bedeutet in etwa "saurer Trank". Schäumend und aus gegorenem Schwarzbrot hergestellt, erinnert sein Geschmack an Malzbier, leicht süß-säuerlich, aber zugleich herb und erfrischend, und manchmal hat Kwas sogar eine zarte Zitrusnote.

Das Getränk ist so gefragt wie lang nicht mehr. Die Russen, in der übrigen Welt sonst gern als strammes Wodka-Volk beschrieben, sind im Kwas-Rausch und entdecken damit eine uralte Tradition wieder.

Über Jahrzehnte hatten kleine Lastwagenanhänger mit aufmontierten gelben Kwas-Tanks das Bild auf den Straßen der russischen Städte geprägt. 900-Liter-Bottiche, aus denen die Menschen das Getränk in alles abfüllten, was sie schleppen konnten. Die Schriftstellerin Tatjana Kuschtewskaja, die sich in ihren Büchern viel mit den kulinarischen Bräuchen ihres Landes beschäftigt, erinnert sich, wie sie in Moskau früher sogar mit leeren Gurkengläsern vor einem solchen Kwas-Fass, einer Kwasnaja Botschka, anstand und für ein paar Kopeken volltanken ließ.

Heute gibt es frischen Kwas vor allem in Biergärten, wo er aus Zapfanlagen strömt, von Schaschlik-Duft umwölkt. Auch die alten gelben Tonnen sind noch zu sehen, selbst im modernen Moskau. An Metrostationen, in Parks, wo Pärchen oder Jugendcliquen sich jetzt wieder häufiger Kwas in Plastikbecher füllen lassen, bevor sie weiterschlendern. Da können die Tanks noch so anachronistisch wirken, in Zeiten vollautomatischer Flaschenabfüllungen und bombastischer Gipermarkety, wo die Regale gefüllt sind mit Sorten wie Kwas Otschakowskij, Russkij Kwas oder der Marke Nikola. Ein Name, der sich auch "ni-kola" lesen lässt, was so viel wie "keine Cola" heißt.

Kwas ist so alt ist wie Russland selber. Erstmals schriftlich erwähnt wurde der Trunk 989 zu Zeiten des Kiewer Fürsten Wladimir. Er wurde in Klöstern und Kasernen gebraut und floss auch reichlich in die große Literatur. "Das russische Volk braucht Kwas wie die Luft zum Atmen", hat der Dichter Alexander Puschkin einmal geschrieben. Aber es gab dann doch auch Zeiten, in denen viele Russen sich nicht mehr um dieses Puschkin'sche Gesetz scherten. Sie wollten eine andere, frischere Luft atmen. Eine, die sie noch nicht kannten.

So begannen die Russen, an den Straßenbuden Westlimonade wie Coca-Cola, Sprite oder Fanta zu kaufen, die sie im Sommer dann an weißen Plastiktischen, unter Schirmen mit den Labeln amerikanischer Getränkemultis tranken. Nach dem Zerfall der Sowjetunion galt Kwas lange als provinziell und unmodern und verlor dementsprechend stark an Fans.

Doch nun ist er wieder so beliebt wie lange nicht mehr. Auch weil er so prima in die aktuelle Patriotismuswelle passt. Und weil es bei den anderen Getränken derzeit eher trüb aussieht. Die Bierproduktion in Russland ist eingebrochen, seitdem wegen EU-Sanktionen, selbstverordnetem Einfuhrstopp und sinkenden Ölexporten die Preise erheblich gestiegen sind. Auch wird weniger Whisky, West-Wodka und Schaumwein eingeführt. Die Russen brennen ihren Schnaps dann eben selber, weshalb der Staat aufs Neue gegen illegal gebrannten Alkohol kämpft. Es ist das alte Spielchen, auch das hat in Russland Tradition.

Ein Viertel aller russischen Männer stirbt vor dem 55. Lebensjahr, und es ist auch der Alkohol, der zu dieser düsteren Statistik beiträgt. Immerhin ging der Konsum zuletzt zurück. Und der Kwas-Boom, der damit einhergeht, ist von Russlands Führung durchaus gewünscht. So hofft man auch auf eine gesündere Bevölkerung. Denn Kwas ist nur sehr schwach alkoholisch und gut für Stoffwechsel und Herzkreislaufsystem. Um elf Prozent ist der Verkauf allein in Russland im vergangenen Jahr gestiegen. Der Bierbrauer Heineken ist deshalb auf die Idee gekommen, an vier seiner russischen Standorte die frei gewordenen Kapazitäten mit Kwas zu füllen.

"Es ist ein wunderbares Getränk", sagt die Autorin Kuschtewskaja, die ihn sogar selbst ausschenkt. Die Russin hat Bücher geschrieben wie "Zu Tisch bei Genies" oder "Die Poesie der russischen Küche", und immer wenn sie in Deutschland eine Lesung macht, kauft sie vorher einen Stapel Plastikbecher und bietet ihren Zuhörern Kwas an. Kuschtewskaja kennt alle Stellen, an denen Russlands Literaten den Kwas verewigt haben. Marina Zwetajewa zum Beispiel, die zu Russlands bedeutendsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts zählt und das malzige Getränk in einem ihrer Gedichte erwähnt. Oder Wladimir Sorokin, in dessen futuristischem Roman "Tellurija" Kwas eine wichtige Rolle als Symbol für die Rückkehr zur russischen Identität spielt.

Und doch werden Gäste heute meistens vor die Wahl gestellt: Tee oder Kaffee? Ein Bier? Wodka? Kwas - eher nicht. "Bei aller Beliebtheit", sagt Tatjana Kuschtewskaja, "viele Russen denken, dass Kwas für einen Gast nicht so angemessen ist. Er hat eben doch ein etwas dörfliches Image."

Vor allem in der dünn besiedelten russischen Provinz sind Russen es gewohnt, sich als Selbstversorger durchzuschlagen, Gurken, Kürbisse und Tomaten anzubauen, auch ihren Kwas stellen sie selber her. Wasser, dunkles Brot (oder Roggenmehl und Malz), Hefe oder Sauerteig, Honig oder Zucker und ein paar Tage Zeit zum Ziehen, viel mehr braucht es ja nicht. Wer ein fruchtigeres Aroma wünscht, gibt auch Johannisbeeren, Rosinen oder sogar Minze dazu. "Jeden Tag macht meine Mutter Kwas und trinkt ihn gemeinsam mit meinem Vater", sagt Kutschtewskaja. "Beide sind über 90."

Welchen Stellenwert Kwas hat, zeigte sich vor ein paar Jahren bei der Frage, ob er in die Liste alkoholischer Getränke aufgenommen werden müsse. Erst als der Chef des Kwas-Herstellers Otschakowo prophezeit hatte, ein solches Gesetz würde den Verbrauchern schaden und die Produktion zum Erliegen bringen, zeigte Präsidentenberater Arkadij Dworkowitsch klare Kante: Kwas, trotz seiner mitunter etwas mehr als 0,5 Volumenprozent, könne mit Alkoholika nun mal nicht gleichgesetzt werden.

Wladimir Putin hat es dann etwas launisch aber doch getan, vor ein paar Monaten bei einer Pressekonferenz. Da beklagte sich ein Journalist aus Kirow, dass sein Heimatgetränk Wjatskij Kwas es nicht in die gigantischen Supermarktketten schaffe. Wegen zweier erlittener Gehirnschläge lallte der Mann dabei etwas, weshalb Putin, der davon nichts wusste, ihm zuwarf, er habe wohl selber in der Früh Kwas getrunken. Aber dann destillierte der Präsident zielsicher den Patriotismus heraus, der in dem Thema steckt. Er wisse zwar nicht genau, wie ungesund Cola sei, und er könne sie natürlich auch nicht einfach verbieten. Kwas aber sei russisch und gesund, und das werde die Regierung gewiss unterstützen.

Es dauerte nicht lange, bis die Supermarktketten bestellten.

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