Restaurantkritiker:"Wenn man alleine kommt, ist man verdächtig"

Restaurantkritiker: Ingo Scheuermann

Ingo Scheuermann

(Foto: privat)

Ingo Scheuermann testet seit Jahren Spitzenrestaurants. Im SZ-Interview erklärt er, welche Trends in der Gastronomie ihn nerven und wie man es als Kritiker schafft, nicht erkannt zu werden.

Interview von Oliver Klasen

Er ist einer der profiliertesten Restaurantkritiker in Deutschland. Ingo Scheuermann fährt quer durch Europa, um Spitzenküchen zu testen und schreibt Rezensionen für mehrere Gourmet-Fachmagazine. Natürlich wusste auch er zuvor nicht, welche neuen deutschen Sternerestaurants der Guide Michelin in diesem Jahr küren würde. Im Interview spricht er über den schlechtesten Service, den er je erlebt hat und erklärt, warum die Scheu vor Sternerestaurants unbegründet ist.

SZ: Herr Professor Scheuermann, wie wird man Restaurantkritiker?

Ingo Scheuermann: Eine formelle Ausbildung gibt es nicht. Der einzige Führer, der ausschließlich mit Profis arbeitet, ist Michelin. Da muss man als Tester einen einschlägigen Berufshintergrund haben, entweder als Koch oder im Service. Alle anderen Restaurantkritiker sind letztendlich Autodidakten.

So wie Sie?

Im Grunde ja. Ich war schon immer von Spitzenrestaurants fasziniert. Irgendwann hatte ich ein kleines Netzwerk geknüpft - zu Köchen, Restaurantbetreibern, Chefredakteuren von Gastromagazinen. Im Jahr 2008 startete ich meinen Blog, der numehr in der Seite Culinary Insights seine Heimat gefunden hat.

Was muss ein Restaurantkritiker können?

Ich muss Vergleichswerte haben. Ich muss zum Beispiel die beste Taube der Welt gegessen haben, um sagen zu können, ob der Koch bei der Taube auf meinen Teller sein Potenzial ausgeschöpft hat.

Nach welchen Kriterien beurteilen Sie ein Gericht?

Für mich gibt es vier Kriterien: die Produktqualität und die technische Zubereitung, zum Beispiel den richtigen Garpunkt. Dann die Frage, ob die Aromen harmonisch ineinandergreifen und ob das Gericht in seiner Gesamtkomposition stimmig ist. Schließlich beurteile ich, wie überraschend und kreativ das Gericht beziehungsweise das Menü auf mich wirkt. Oft erkennt man schon am Amuse-Bouche, ob jemand Aromen dimensionieren kann.

Was meinen Sie damit?

Wenn es zum Beispiel Cracker mit Thunfisch und Kaviar gibt, mit besten Zutaten also - aber Sie schmecken nur Brot. Ansonsten werden heute vegetarische Gerichte immer wichtiger. Ich finde diesen Trend gut. Denn die Variabilität von Fisch und Fleisch ist begrenzt. Wenn ich mir ansehe, welches Aromenspektrum es bei Gemüse und Kräutern gibt, dann nutzen wir das bei Weitem nicht aus.

Welcher Gastrotrend nervt Sie?

Ich finde, der Trend zum Regionalen wird etwas übertrieben. Das funktioniert nur mit extrem guten Produkten - und die gibt es eben nicht immer. Was mir außerdem auf den Wecker geht, ist diese Crossover-Küche. Ich muss nicht zwanghaft ein französisches Gourmet-Menü mit Japanese fine dining oder mit asiatischen Aromen aufpeppen. Es gibt nur sehr wenige, die das beherrschen.

Als Restaurantkritiker besuchen Sie die Lokale inkognito. Wie schaffen Sie es, nicht erkannt zu werden?

Es gibt Restaurants, die haben Steckbriefe von Testern in der Küche hängen. Ein Kritiker der New York Times hat mal geschrieben, dass er sich beim Restaurantbesuch immer kostümiert. Das mache ich nicht. Aber ich reserviere zum Beispiel nicht unter meinem richtigen Namen, weil der in der Szene bekannt ist. Auch eine unverdächtige E-Mail-Adresse ist wichtig, denn es wird ja oft gefragt, wohin die Reservierungsbestätigung geschickt werden soll.

Aber fällt es nicht auf, wenn Sie als Kritiker die halbe Karte durchprobieren?

Normalerweise versucht man, nicht extraordinär querbeet zu bestellen, sondern man nimmt ein Menü oder ein bisschen was à la carte. Natürlich: Wenn man alleine kommt, ist das immer verdächtig. Deshalb verknüpfe ich den Restauranttest mit Geschäftsterminen und erscheine mit mehreren Leuten.

Was passiert, wenn Sie doch erkannt werden?

Dann ist es so. Manchmal, wenn klar ist, dass ich in dem Restaurant bekannt bin, gehe ich auch offen auf das Personal zu und begrüße es. Wenn ich dort sitze, können sie ohnehin nicht mehr viel ändern. Sie können sich ein bisschen mehr Mühe geben, ja. Aber bessere Produkte kaufen oder spontan ein sensationelles neues Menu kreieren, das geht nicht.

Wenn Sie in einem Lokal einen totalen Reinfall erlebt haben, geben Sie dem Team eine zweite Chance?

Ja, tue ich. Wenn Sie im Sternesektor unterwegs sind, dann werden Sie in Deutschland, was Produktqualität und Zubereitung betrifft, in den allerseltensten Fällen totale Reinfälle erleben. Wenn es doch mal der Fall ist, dann eher bei hochsensiblen Produkten. Bei Fisch zum Beispiel, der mit der Niedrigtemperaturgarmethode zubereitet ist, bei 45 oder 48 Grad, der wird schon kalt, wenn er 30 Sekunden zu lange steht.

Was war die krasseste Panne, die Sie je in einem Restaurant erlebt haben?

Die betraf den Service. Wir reden von einem Drei-Sterne-Restaurant in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland. Da wurden Speisereste von einem Teller auf den anderen gekratzt. Und dann stand das Personal auch noch wie eine Phalanx an der Wand, tuschelte und machte sich über die Gäste lustig, wohl in der Annahme, dass man sie nicht versteht.

Was raten Sie Bekannten, die Angst vor dem Besuch im Sternerestaurant haben?

Einfach ausprobieren. Das ist eine typische Schwellenangst, aber selbst in der altehrwürdigen Schwarzwaldstube ist es heute viel ungezwungener als früher. Es ist nicht so wie in "Pretty Woman", dass beim Essen im Sternerestaurant die ganze Zeit ein Pinguin hinter einem steht und aufpasst, ob man auch die richtige Gabel benutzt.

Testen Sie nur Sternrestaurants oder auch ambitionierte Landgasthöfe?

Ja, wenn ich eine interessante Küche erwarte. Insgesamt denke ich, wir sollten die Spitzenküche demokratisieren. Mir ist es manchmal lieber, ich esse vier Gänge für 50 bis 60 Euro in einem Bistro-Ambiente als die siebzehnte Jakobsmuschel oder den fünfundzwanzigsten Steinbutt.

Kochen Sie selbst auch?

Ja, ich habe schon etliche Kochbücher durchgearbeitet. Denn ich will verstehen, welcher Aufwand dahintersteckt. Ich habe große Achtung vor der Leistung der Küchenteams. Das ist Hochleistungssport - und zwar jeden Abend, für 30 bis 40 Leute. Ich dagegen mache, um im Bild zu bleiben, eine leichte Joggingrunde vor fünf bis sechs Gästen.

Sie sind eigentlich Professor für Kapitalmarktfinanzierung und Wirtschaftsmathematik. Ist die Sterneküche ein Ausgleich für die trockene Welt der Zahlen?

Sagen wir lieber kreative Ergänzung. Das gefällt mir besser.

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