Re-Edition:Licht gestalten

Re-Edition: Von links: "Peitschenleuchte" Typ 113, Federzugleuchte, Maschinenleuchte.

Von links: "Peitschenleuchte" Typ 113, Federzugleuchte, Maschinenleuchte.

(Foto: Hersteller)

Plötzlich Fabrikbesitzer: Zwei junge Hamburger verleihen jetzt den ikonischen Midgard-Leuchten aus den 1920er-Jahren neue Strahlkraft.

Von Max Scharnigg

Es ist das Jahr 1919 und Curt Fischer ist sauer. Er ist gerade Inhaber der Industriewerke Auma im gleichnamigen Ort in Thüringen geworden, aber seine Arbeiter sehen nichts. Das elektrische Licht ist eher noch eine Start-up-Technologie, die Birnen an der Decke scheinen gleichmäßig hell in die Fabrikhalle, in der Mechaniker Werkzeuge bauen, die im benachbarten Selb bei der Porzellanherstellung gebraucht werden. Aber die Männer stehen sich dabei oft selbst im Weg, besser gesagt: ihr Schatten. Ein Arbeiter, der sich über ein Werkstück beugt, braucht keine starre Birne über sich, sondern ein Licht, dass ihm bei jedem Handgriff folgt, in jede Richtung und auf jede Seite. Gibt's aber nicht.

Doch Ingenieur Curt Fischer hat nicht ohne Grund eine schnelle Karriere gemacht, er gilt als genialer Tüftler, und jetzt fängt er an, das Problem zu umkreisen. Am Ende stehen verschiedene Patente und die Erfindung des lenkbaren Lichts. Zunächst in Form eines Scherengelenks, dann mit einem drehbaren Reflektor, schließlich mit dem Leuchtenmodell Nr. 113, mit einem elegant gebogenen Stab. Um 1930 folgt als Geniestreich die Maschinenleuchte mit wartungsfreien Gelenken. Nichts weniger als die Idealform dessen, was bis heute auf nahezu jedem Schreibtisch zu finden ist: ein Lampenfuß, zwei verstellbare Arme, ein schwenkbarer Schirm. Damit ist Licht für jeden Arbeiter formbar geworden.

Sogar die Vordenker im Bauhaus setzten die Leuchte von Curt Fischer ein

Fischer glaubt an das Potenzial seiner Erfindungen und gründet schon 1919 eine Leuchten-Marke, der er den mythischen Namen Midgard gibt. Schnell wird die Midgard zum Inbegriff der Maschinen- und Werkleuchte und verbreitet sich in den Fabriken, aber auch Schreibtischarbeiter schätzen ihre Vielseitigkeit. Sogar die Vordenker im Bauhaus, das seine erste Blüte erlebt, setzen das Modell 113 ein. Eine besondere Auszeichnung, schließlich wollen die strengen Bauhäusler sonst alles selbst und neu machen. Die Midgard aber wird goutiert und mehr noch, wie die Bauhaus-Designerin Marianne Brandt in ihren Memoiren zugibt: "Beneidet haben wir die Erfinder des Armes der Midgardleuchte - unsere Kandem-Lampe war ja auch verstellbar, aber eben nicht so elegant." Was Curt Fischers Leuchten so elegant und flexibel macht, ist eine Konstrukteursleistung: das Doppelschraubgelenk mit einer eingesetzten Messingscheibe. Es lässt sich von Hand stufenlos verstellen und hält die Lampe in jeder gewünschten Position. Bedeutet: kein Auf- und Zuschrauben, keine abstehenden Flügelmuttern und kein Verschleiß, weil die Messingscheibe als Trockenschmierer fungiert.

Der Ingenieur will, dass sein Licht für jede Anforderung gewappnet ist, und erfindet immer neue Module dazu, für Wand, Decke, Boden. Er spricht mit Architekten und zeichnet in präzisem Stil für jede Anfrage eine perfekte Midgard-Lösung. Und obwohl in der Zeit viele Leuchtenfirmen entstehen und sich an seiner Form orientieren, erreicht keine die funktionale Ästhetik der Midgard.

Eine Ästhetik, die auch David Einsiedler fasziniert, als er Ende der 90er-Jahre über die Flohmärkte in München und Berlin streift. Der Student interessiert sich für schnörkellosen Industriestil und beginnt, die schweren Funktionsleuchten zu sammeln. Er ist nicht der Einzige. "Ich habe beobachtet, wie die Preise dafür in den letzten 15 Jahren gestiegen sind, zum Teil absurd schnell. Mittlerweile zahlt man deutlich vierstellige Beträge für frühe Midgard-Leuchten." Unter anderem deshalb macht Einsiedler zusammen mit seiner Frau Joke Rasch aus seinem Hobby etwas später ein Geschäft. Unter dem Namen Ply eröffnen sie in Hamburg einen kleinen Laden, in dem sie alte Funktionsmöbel und seelenvolle Zeugnisse aus dem Industriezeitalter restaurieren und verkaufen. Fast über Nacht finden sich die beiden mit diesem Spezialgebiet an der Spitze eines Einrichtungstrends wieder. Kontor-Stil und Industrial-Chic werden Mainstream, Designhotels und Boutiquen setzen bei ihrer Einrichtung auf authentische Möbel und Accessoires, denen man ihre Herkunft aus Fabriken und Werkshallen ansehen soll. Ply läuft vom ersten Tag an gut.

Die beiden belassen es aber nicht beim Finden und Verkaufen, sie interessieren sich für die Geschichten und stöbern auch im Lebenslauf der Midgard-Leuchten. Erste Überraschung: Die Firma gibt es noch. Zweite Überraschung: Sie hat durchgehend produziert. Trotz Enteignung in der DDR und wirtschaftlichen Turbulenzen nach der Wende, wurden in Auma immer Lampen gebaut. Als Einsiedler Anfang des Jahrtausends darauf aufmerksam wird, fertigen sie mit einer Handvoll Arbeiter gerade noch Federzugleuchten für Manufactum. Damit ist die Geschichte der Midgard-Leuchten auch ein kleines deutsch-deutsches Mittelstandswunder, denn kaum ein Traditionsbetrieb hat die Teilung ohne Zäsur überstanden. Zweimal nähert sich David Einsiedler als Midgard-Bewunderer dem Erbe von Curt und seinem Sohn Wolfgang Fischer an, mittlerweile vertreten durch zwei Enkelinnen des Gründers. Beim ersten Mal hatte er nicht genug Geld, um selbst in einen Neuanfang in Auma zu investieren, die Suche nach Investoren für das schlingernde Unternehmen scheitert.

Angesichts des Erfolgs mit Ply wagen Einsiedler und Rasch im Jahr 2014 einen neuen Anlauf, und nach vielen Gesprächen klappt es: Neben den Rechten an den drei klassischen Midgard-Leuchtenserien, erwerben sie die Werkzeuge und das Firmenarchiv mit Hunderten Originalzeichnungen von Curt Fischer, Fotos, Briefen, Urkunden. Beide Seiten sind sich einig, dass Midgard-Licht eine Zukunft haben soll, kurz vor dem 100. Geburtstag. "Es ging um Patent- und Markenrechte und eine große Erbengemeinschaft, das waren komplizierte Verhandlungen, aber wir haben uns Zeit gelassen und wollten das Ganze transparent machen, wir wollten ja einen positiven Neuanfang", sagt David Einsiedler.

Vom Ladeninhaber zum Fabrikbesitzer! Ein Plan ist schnell gefasst, zunächst soll die legendäre Midgard-Maschinenleuchte von 1930 wieder auferstehen, als Lichtgestalt der Industrialisierung. Es beginnt eine Zeit voller Premieren für die Hamburger: im riesigen Gusswerk, wo die Gelenke hergestellt werden; bei der Suche nach einem der letzten Schirmdrücker in Deutschland, der Lampenschirme in der alten Qualität herstellen kann. Sie lernen, dass jeder Fehler, jedes unbedachte Detail viel Geld kosten kann. Sie bauen eine analoge Produktionsstraße in Hamburg auf und ein digitales Konzept, bei dem sich Käufer ihre Midgard individuell via App zusammenstellen können. Für das große Archiv engagieren sie eine eigene Mitarbeiterin. So fällt langsam auch Licht auf die Geschichte des Unternehmens nach dem Krieg, den es ohne Umeignung zur Rüstungsfirma übersteht. Anfang der 50er-Jahre übergibt Curt Fischer den Betrieb an Sohn Wolfgang. Damals gilt vor allem der Federzugleuchte die Aufmerksamkeit, einer Tischleuchte mit sichtbaren Zugfedern und Doppelstreben-Arm, deren Design millionenfach verbreitet ist und die von Midgard nicht erfunden, aber zunächst in sehr solider Qualität gebaut wird. Als der Betrieb Ende der 60er-Jahre enteignet wird und im VEB Raumleuchte Zeulenroda aufgeht, muss immer billiger produziert werden, das Gelenk wird mit mangelhaften Teilen seiner Funktion nahezu beraubt. Man konzentriert sich in dieser Zeit mit den Federzugleuchten auf den Export - an Ikea. Von den Schweden lange für wenige D-Mark verkauft, landen die Lampen aus Auma so auf jedem zweiten Jugendschreibtisch der BRD - ein weiteres kurioses Kapitel in der Geschichte von Midgard. Vor und nach der Wende investiert Wolfgang Fischer noch mal in die Patente und auch in Standort, Qualität und Fertigungstechniken. Ein verzweifeltes Unterfangen, denn der Bedarf an Maschinenleuchten ist gesunken, gleichzeitig ist die Konkurrenz global geworden. Es fehlt die Richtung, in die man das lenkbare Licht leuchten lassen könnte.

Heute können sich Käufer ihr Modell individuell per App zusammenstellen

Wohin es strahlen könnte, ist schließlich vor zwei Wochen in der Kölner Innenstadt zu sehen. Im Geschäft der hippen Kosmetikmarke Aesop stehen nagelneue Midgard-Maschinenleuchten in jeder Größe, golden blitzen die Messingscheiben in den Gelenken. David Einsiedler und Joke Rasch schenken Sekt aus, Journalisten probieren die satten Doppelschraubgelenke, heben die massiven Lampen an, nicken sich anerkennend zu: Das hat Gewicht. Eine Leuchte wie ein Anker, trotzdem filigran und überaus gelenkig. Der Originalentwurf von Curt Fischer wurde bei der Neuauflage nur äußerst behutsam modernisiert. "Wir wollten jede Schraube so nah wie möglich am Original haben", sagt Einsiedler und klingt glücklich erschöpf wie ein frisch gebackener Vater. Sicher, die neu-alte Midgard ist ein Liebhaberstück, mit einem Preis um die 500 Euro. Aber eben genauso funktional, modular und made in Germany wie vor hundert Jahren. Nur etwas bekommt der Käufer heute noch obendrauf: Die große Geschichte des lenkbaren Lichts.

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