Porträt:Von Beruf weitsichtig

Lesezeit: 5 min

Li Edelkoort ist die weltweit einflussreichste Trendforscherin für Mode und Design. Aber wie macht man das bloß, die Ästhetik der Zukunft vorherzusagen?

Von Anne Goebel

Es beginnt schon mit dem Begriff. Trendforscher, das hört sich so faszinierend widersprüchlich an. Aufregend! Wie kann jemand etwas erforschen, das erst in der Zukunft sichtbar werden wird? Irgendwie muss da Zauberei im Spiel sein. Nun liebt die Mode, erstens, jede Art von schillernder Figur aus Prinzip. Zweitens tut sie das, branchenuntypisch, bei den Berufsvisionären mit demütiger Beständigkeit - schließlich geht es um millionenschwere Einblicke in die verborgenen Launen und Wünsche der Kundin. All das zusammengenommen: beste Voraussetzungen zur Heiligenbildung. Und die Lieblingsheilige heißt Lidewij Edelkoort.

65 Jahre, strenge Frisur, signalroter Lippenstift. Seit Jahrzehnten gilt die Niederländerin als einflussreichste Trendforscherin für Mode und Design. "Guru" oder "Zen-Meisterin" sind noch die zurückhaltenden Titel. Die britische Elle erdichtete mal die schöne Ehrenmetapher von der "mystischen Stil-Meteorologin".

Li Edelkoort, so wird ihr Name meistens abgekürzt, ist eine viel beschäftigte Frau. Mit ihrem Team reist sie um die Welt, pendelt zwischen den drei Büros ihrer Beratungsfirma Trend Union in Paris, New York und Tokio, immer auf der Suche nach gut verkäuflichen Informationen darüber, wie wir in Zukunft wohnen, was wir anziehen, mit welchen Materialien oder Farben wir uns umgeben möchten. Kurz gesagt: Was wir kaufen wollen.

Ihr Satz "Gelb ist das neue Pink" nahm das Colour-Blocking vorweg

Die Dienste von Trend Union samt den regelmäßig publizierten Ideenbüchern nehmen Entwicklungsabteilungen von Unternehmen wie Coca-Cola oder Gucci in Anspruch, wobei über die Honorare diskret geschwiegen wird. Wenn Li Edelkoort zu einer ihrer Vorlesungen in den hippen Metropolen einfliegt, muss man für ein Ticket einige Hundert Euro investieren - Pflichttermin für Stylistinnen, Moderedakteure, Schmuckdesigner und all die anderen aus der großen Kreativ-Familie. Schließlich möchte man seinen Einfallsreichtum einerseits frei fließen lassen, aber so ganz am Konsumenten und dessen Portemonnaie vorbei soll es dann doch nicht gehen.

Wenn die Niederländerin Li Edelkoort über die Trends von übermorgen referiert, hört eine ganze Branche gebannt (und für viel Geld) zu. (Foto: Ruy Teixeira)

Überflüssig zu sagen, dass die Termine immer gut gebucht sind. Genauso regelmäßig machen danach in Blogs oder Magazinen zwischen Verehrung und Überdruss changierende Begriffe wie "Hochamt" die Runde. Dabei trifft man an einem Frühlingsnachmittag in Zürich eine überraschend entspannte Li Edelkoort, die sich in einer Seminarpause Schweizer Pralinen zu einem Schluck Champagner genehmigt.

"Wissen Sie, es war einfach das, was ich am besten konnte", sagt sie in ihrem kehlig holländischen Englisch zu der Frage: Wie wird man das denn, Trendforscherin? Geboren in Wageningen, Modedesign studiert, schon mit 21 Jahren wurde sie Chefeinkäuferin im Amsterdamer Luxuskaufhaus "De Bijenkorf". Edelkoort ging nach Paris, als unangepasste Designer wie Sonia Rykiel groß wurden, Yves Saint Laurent mit seiner folkloristischen Ballets-Russes-Kollektion für Aufruhr sorgte. Verzopfte ästhetische Konzepte wurden damals von der Mode auf den Kopf gestellt - sicher keine schlechte Schule, um später dem eigenen Gespür zu vertrauen. Nach ein paar Jahren als erfolgreicher Trendscout macht sich Edelkoort mit Mitte dreißig selbständig. "Ich hatte immer Antennen für Veränderungen", sagt sie. "Ich ahne, was Frauen in ein paar Saisons tragen wollen, bevor sie es selbst wissen. Reine Intuition."

Gretchenfrage des Metiers: Was ist zuerst da, der Trend oder die Trendforschung?

Abgesehen von der Tatsache, dass ihr der Erfolg ihrer Firma recht gibt - das sind natürlich Sätze, die schwer nach Esoterik klingen. Ob sich die Wirkungsweise dieser Intuition konkretisieren lasse? Was sind die Auslöser? Die Frau in einem Oberteil aus leuchtend weißer Spitze ("Let there be more light" ist einer der Merksätze im neuen Trendbuch) rückt jetzt mit leise ironischem Lächeln ein wenig in ihrem Sessel zurück. Das ist genau die Situation, die sie permanent erlebt. Das Warten des Gegenübers darauf, dass das Orakel spricht. Leichte Drehung in Richtung ihres Assistenten. "Konkret? Hat mich irgendetwas in letzter Zeit konkret inspiriert?" Der junge Mann schüttelt bedauernd den Kopf. "Es ist etwas, das in der Luft liegt", sagt sie. "Besser kann ich es nicht erklären." So weit die höfliche Lektion, dass Lidewij Edelkoort, Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres sowie in den Niederlanden zum Ritter geschlagen, sich nicht in die Karten schauen lässt.

Ein wenig Schamanen-Allüre gehört also zum Geschäft, über den einen oder anderen Treffer gibt sie durchaus Auskunft. Ihr Satz "Gelb ist das neue Pink" nahm den Kontrast der Komplementärfarben in Mode und Beauty vorweg, lange bevor das Wort Colour-Blocking es bis in die Kundenzeitschriften von Drogeriemärkten schaffte. Mit einem japanischen Konzern entwickelte Edelkoort das Konzept eines sympathisch rundlichen Lifestyle-Autos für grün orientierte Urbanisten - heute ein vertrauter Anblick in allen Städten der Welt, "aber das war Ende der Achtziger, als jeder Wagen schwarz, schnell und scharfkantig war". Und Karl Lagerfelds viel bestaunte Almhütten-Kollektion mit Landmädchen für Chanel (2009) ist doch etwas entzaubert vor dem Hintergrund, dass Li Edelkoort schon zwei Saisons vorher in einer wolkigen Prophezeiung "die Rückkehr des Ruralen gefühlt" hatte. Dass sie selbst vielleicht nur Tendenzen formuliert, die eigentlich anderswo, auf der Straße, in jungen, kühnen, avantgardistischen Szenevierteln aufkeimen, ist dabei die unbeantwortete Gretchenfrage ihres Metiers: Was ist zuerst da, der Trend oder die Trendforschung?

Beim Seminar in Zürich geht es um Handfestes für Einkäufer oder Einzelhändler, um Mode-Prognosen für 2017/18. Die Teilnehmer in einem denkmalgeschützten Lichtspieltheater schreiben emsig mit oder nehmen per Smartphone auf, was die Meisterin vorn betont sachlich referiert. Merke: Keine engen Mädels-Beinkleider mehr, ein für alle mal, "stop the slim". Lichtes Weiß und Blautöne überstrahlen das durch den IS diskreditierte Schwarz. Schließlich: eine neue Wertschätzung von händischer Arbeit in Zeiten klinisch sauberer IT-Jobs. Modisch sichtbar werde dies durch noch stärkeren Hang zu zerfetztem Denim, grobem Filz, abgetragenen Stiefeln.

Das ist der Moment, in dem mancher an sich herunterschaut - im Geist zumindest, der Raum ist abgedunkelt - und überlegt: Sind meine Jeans und ich wirklich so durchschaubar? Andererseits ist es seltsam, wie sich im Saal eine Art Wohlgefühl ausbreitet. Dass jemand so sicher weiß, weshalb wir tun, was wir tun, zumindest vor dem Kleiderschrank! Mode ist ja nicht nur ein Distinktionsmerkmal, sondern auch ein harmonieseliges Gruppenerlebnis.

Einen ihrer echten Coups landete Li Edelkoort, langjährige Direktorin der Designakademie Eindhoven, erst vor wenigen Monaten: Als sie in einem sogenannten Manifesto "the end of Fashion", das Ende der Mode proklamierte. Das Thesenpapier über ein ausgebranntes System, den Sieg von Marketing über Kreativität, die stupide Regentschaft der Like-Generation wurde in allen branchenrelevanten Medien rauf- und runterdiskutiert. Es gab Zustimmung, Kritik, auch Häme über angeblich letzte Zuckungen einer aussterbenden Spezies - heute würden künftige Präferenzen von Online-Kundinnen eben per Algorithmus errechnet, basta. Wer brauche noch Trendforscher? Reihenweise Rücktritte namhafter Designer gaben ihrer These andererseits recht, und flugs wurde überall weinerlich das Diktum vom Tod des Systems wiedergekäut: das Ende der Modenschauen, das Ende von Prêt-à- porter, das Ende des Kollektions-Rhythmus.

Li Edelkoort musste da natürlich nachlegen und ist längst beim radikal neuen Anfang angekommen. Sie definiert jetzt in Seminaren die Rückbesinnung auf altes Textilhandwerk als the modern luxury, prognostiziert den modisch femininen Mann, ruft mal eben das Ende der ausbeuterischen Textilindustrie aus und erklärt, sicherheitshalber, den bereits allseits gehypten Demna Gvasalia zum Designer von morgen. Ohne ihn beim Namen zu nennen natürlich.

Letzte Frage zur letzten Praline im Pausen-Separee: Welches Erlebnis hat ihr in jüngster Zeit am stärksten ein Gefühl dafür gegeben, wie die Zukunft aussehen könnte? "Als mich der Sohn von Bekannten anrief und ohne jede Ironie über die Schwangerschaft seiner Frau sagte: ,Wir bekommen ein Baby.' Die Zukunft ist weiblich. Die matriarchalische Gesellschaft kommt." Was davon stimmt, wird sich zeigen. Entrückt oder guruhaft sieht Li Edelkoort jedenfalls gerade in diesem Augenblick nicht aus. Eher, tja, siegesgewiss.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: