Porträt:Ganz schön anders

Top-Mannequin und Knast-Insassin: Das Ex-Model May Andersen hat es nach oben geschafft und ist tief gefallen. Jetzt beeindruckt die 32-Jährige in einer Kinorolle.

Von Jenny Hoch

Die meisten Models funktionieren wie Uhrwerke. Ihr Leben ist skandalfrei, sie sind ausgeschlafen, gut gelaunt, glattgebügelt. Leere Projektionsflächen für Stylisten, Modemacher, Werber.

Models wie May Andersen sind eine andere Nummer. Sie sind unberechenbar und stets ein wenig übernächtigt, weil sie zu viel gefeiert haben. Schlagzeilen machte die Dänin nicht damit, dass sie vegan lebt oder nur grüne Smoothies zu sich nimmt, sondern weil private Pornobilder im Internet zirkulierten und sie in einem Flugzeug randalierte.

Wenn May Andersen, wie jetzt in einer Suite im Berliner Regent Hotel, vom Sofa aufsteht und dem Gast artig die Hand gibt, sieht man zwar, dass auch sie sich vor allem von Gemüsesticks ernährt. Aber da ist auch dieser Blick. Er ist klar und direkt und ein bisschen hart. Er signalisiert: Komm mir bloß nicht zu nahe. Komm mir erst recht nicht mit dem Model-trinkt-drei-Liter-Wasser-täglich-Scheiß. "Pah, ich schaffe nicht mal einen Liter", wird May Andersen später dazu sagen.

In Berlin ist sie nicht für ein Shooting, sondern um für ihren Film zu werben. Genauer gesagt, um die dänische Oscarpreisträgerin Susanne Bier ("In einer besseren Welt") und "Games of Thrones"-Star Nikolaj Coster-Waldau dabei zu unterstützen, den gemeinsamen Film "Zweite Chance" zu präsentieren. May Andersen hat eine Nebenrolle, allerdings nicht die Art von Nebenrolle, für die Models sonst gecastet werden: Umwerfend aussehen und ein paar Sätze aufsagen. Man kennt das, von Cara Delevingne etwa, die eine Meerjungfrau spielte und demnächst als bildschöne Studentin zu sehen sein wird.

In ihrem ersten Film weint May Andersen die meiste Zeit. Sie trägt kaum Make-up und ist mit Dreck beschmiert. Sie spielt die drogensüchtige Ex-Prostituierte Sanne, deren Baby von einem Polizisten (Coster-Waldau) aus ihrer versifften Wohnung entführt und durch ein totes Kind ausgetauscht wird. Der Polizist tut das in einem Moment der Verzweiflung, es ist sein eigener Sohn, den er zurücklässt, er lag morgens tot in seiner Wiege. Der Vater nimmt sich den lebendigen Jungen, weil er denkt, dass er in seiner heilen Familie größere Chancen auf ein gutes Leben hat als bei einer Drogenabhängigen.

Porträt: May Andersen, mit 13 entdeckt, gründete ein Label, leitete eine Galerie und sagt: "Ist mir egal, was Leute mit Uni-Abschlüssen über mich reden."

May Andersen, mit 13 entdeckt, gründete ein Label, leitete eine Galerie und sagt: "Ist mir egal, was Leute mit Uni-Abschlüssen über mich reden."

(Foto: Franne Voigt)

"Zweite Chance" ist harter Stoff. Das liegt an der Babyleiche und den menschlichen Abgründen, moralischen Grauzonen, die verhandelt werden. Aber es ist auch ein sensibel gespielter Film, und die 33-Jährige hat ihren Anteil daran. In Hollywood werden Schauspielerinnen dafür gefeiert, wenn sie für Rollen zunehmen oder sich eine krumme Nase ankleben lassen. Das ist natürlich Unfug. Und es ist auch gar nicht der Mut zur Hässlichkeit, mit dem May Andersen glänzt. Beeindruckend sind die stille Traurigkeit, der trotzige Wille, den sie ihrer Figur verleiht. "Ich bin kurz vor dem Dreh selbst Mutter geworden", erzählt sie. "Diese Verletzlichkeit habe ich einfließen lassen." Und das Weinen auf Regie-Anweisung? "Ich musste nur an mein eigenes Baby denken, schon flossen die Tränen."

Die Rolle hat May Andersen durch Zufall bekommen. Sie kam bei einem Abendessen mit Susanne Bier ins Gespräch, die bot an, ihr das Drehbuch für ihren neuen Film zu schicken. May Andersen war skeptisch. "Als Model hört man so etwas oft, jeder ist auf einmal Regisseur und bietet dir eine Rolle an. Meistens als blondes Sexobjekt." Der Part der Sanne, einer Frau am Boden, die sich zur Kämpferin wandelt, überzeugte sie sofort. "Ich wusste, es wird hart. Aber ich wollte beweisen, dass ich es kann."

May Andersen ist eine Frau mit vielen Leben. Sie war ganz oben und ganz unten. Topmodel und Knast-Insassin. Sie hat ein Label gegründet, eine Galerie geleitet, nun ist sie Schauspielerin. Sie hat Unfälle und Skandale überlebt, und hätte man die Wahl, mit ihr oder mit Claudia Schiffer durch die Bars zu ziehen, würde man sich ohne Zögern für sie entscheiden. Langweilig wird es mit einer toughen Frau wie May Andersen garantiert nicht.

Die Geschichte ihrer Entdeckung ist ein Model-Klassiker. 13-jähriger Teenie wird von einem Fotografen auf der Straße angesprochen. Die alleinerziehende Mutter will nicht, dass ihre Tochter so jung ins Haifischbecken der Modewelt springt, kann aber nichts dagegen tun. Mit 15 darf Lykke May Andersen, wie sie mit vollem Namen heißt, nach New York reisen. Zwei Tage später wird sie von der italienischen Vogue gebucht - und die Sache ist geritzt.

Die folgenden sechzehn Jahre läuft sie als blonde Überfrau mit eisblauen Augen die Laufstege für Valentino, Dior und Louis Vuitton rauf und runter. Sie posiert für Kampagnen von Gianfranco Ferré und Prada, schießt unzählige Cover und Fotostrecken für alle großen Magazine. Sie gründet ihr eigenes Denim-Label mit dem schönen Namen Chicks with Guns, ist mit Promis wie dem Model Marcus Schenkenberg liiert und feiert gerne. Die Antwort auf die Frage, was eine gute Party braucht, kommt wie aus der Pistole geschossen. "Auf keinen Fall irgendwelche Sponsoren. Spontaneität. Gute Freunde. Keinen Champagner oder so. Ich trinke Wein."

May Andersen

"Ich bin kurz vor dem Dreh selbst Mutter geworden. Diese Verletzlichkeit habe ich einfließen lassen."

2006 ging ein "Mug shot" von ihr um die Welt, eines dieser frontalen Verbrecherbilder, mit denen die amerikanische Polizei Delinquenten registriert. May Andersen hatte auf einem Flug nach Miami betrunken einen Steward geschlagen. Sie sagt: "Ich bereue, was ich getan habe. Aber ich wurde in Handschellen abgeführt wie eine Terroristin und zwei Tage eingesperrt. Das ist Irrsinn." Zur Strafe musste sie einen sogenannten Anger-Management-Kurs belegen.

Und es gibt weitere Kapitel in dieser Lebensgeschichte voller Brüche, die nichts von der glatten, hochglänzenden Modewelt haben. Als im Internet private Sex-Fotos von May Andersen auftauchen, macht das Gerücht die Runde, sie habe sie gemeinsam mit Kid Rock gemacht - angeblich soll dessen Ehefrau Pamela Anderson sie ins Netz gestellt haben. "Ich fühlte mich, als sei ich öffentlich vergewaltigt worden. Ich dachte, ich könnte nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen, geschweige denn, Kinder haben", sagt sie heute. Und ergänzt: "Niemand sollte solche Fotos machen. Jeder kann gehackt werden, es gibt keinen Schutz."

Irgendwann hat sie die Nase voll und fängt neu an, als Praktikantin in einer New Yorker Galerie. Sie arbeitet sich hoch bis zur Co-Chefin, streicht die Wände, verkauft Bilder. Als sie 2012 auf dem Playboy-Titel ist, gibt sie in der Galerie Autogramme. Das kommt in der Kunstwelt nicht gut an. Hämische Kommentare lässt May Andersen an sich abprallen. "Ist mir ziemlich egal, was diese Leute mit ihren Uni-Abschlüssen reden." Bei einer Ausstellung lernt sie den Künstler und Filmemacher Julian Schnabel kennen. Den Mann, der in der Öffentlichkeit stets Pyjamas trägt und mehr als doppelt so alt ist wie sie, fasziniert die neue Galeriechefin. Sie werden ein schillerndes Paar, bekommen 2013 einen Sohn, dem sie in bester Celebrity-Tradition den merkwürdigen Namen Shooter Sandhed geben - und trennen sich wieder.

"Meine neun Leben" heißt May Andersens Biografie, die in Dänemark erschienen ist. Das Buch trägt den Titel vor allem deshalb, weil es fast ein Wunder ist, dass sie noch lebt. Ein Sturz in einen Abwasserkanal, der Biss eines Hundes mitten ins Gesicht, und im Jahr 2000 wurde ihr Auto in Manhattan von einem Müllwagen gerammt. May Andersen überlebte schwer verletzt. "Ich hatte Panik, nie wieder arbeiten zu können", erzählt sie und winkelt auf dem Sofa ihre dünnen Beine an. "Wer eine Saison ausfällt, ist in der Modelbranche weg vom Fenster."

May Andersen machte natürlich nur eines - einfach weiter. Äußerlich wiederhergestellt, aber innerlich auf Distanz zum Modezirkus. Auf Youtube kann man ihr bei einem Shooting für das Magazin Sports Illustrated zusehen. Sie präsentiert sich im Bikini, perfekte Figur, professionelle Posen. Doch in den Pausen zwischen den Kameraklicks ist da wieder dieser Blick, klar, direkt, ein bisschen hart. Zum Abschied sagt May Andersen mit ihrer dunklen Stimme: "Wäre Schönheit alles, was ich zu bieten habe, wäre ich ein hässlicher Mensch."

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