Pflanzen:Das Wunder der Ananas

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Aalsmeer ist das Zentrum der niederländischen Pflanzenzucht und Siegfried Bunnik einer der kreativsten Köpfe dort. Zu Besuch bei einem Züchter, der seiner Zeit etwas voraus sein muss.

Von Jenny Hoch

Jedes Mal, wenn Siegfried Bunnik seine Gärtnerei betritt, schweift sein Blick erst einmal in die Ferne. Vor ihm stehen in endlosen Achterreihen Zigtausende exotische Zimmerpflanzen in Feuerrot, Orange oder Bordeaux, aber der Züchter hat keine Augen für ihre Schönheit. Denn ganz hinten, im äußersten Winkel des 50 000-Quadratmeter-Gewächshauses, wartet sein aktueller Liebling. Wenn alles so läuft, wie es sich der 42-jährige Niederländer erhofft, dann hat das von Weitem unscheinbar wirkende Gewächs da hinten in der Ecke das Zeug dazu, die It-Pflanze der Zukunft zu werden.

Auf dem Weg zu ihr greift Bunnik sich eine seiner herkömmlichen Bromelien-Arten. Sie sieht aus wie ein kleines grünes Tischfeuerwerk, aus dessen Mitte eine Kaskade roter blütenähnlicher Blätter wuchert. Auf dem Plastiktopf klebt bereits das Preisschild: 4,99 Euro steht darauf, daneben das Logo einer deutschen Baumarktkette. Diese Guzmania wird schon bald mit dem Lkw aus Aalsmeer, dem Zentrum der niederländischen Pflanzenzucht, in irgendeine bayerische oder niedersächsische Stadt transportiert werden. "Deutschland", sagt der Züchter, "ist unser wichtigster Markt."

Der Kunde wünscht sich Natur im Haus, und zwar eine, die für seinen Geschmack designt ist

Dieser Markt ist nicht gerade mickrig. Allein im Jahr 2014 gaben die Deutschen rund 8,62 Milliarden Euro für Blumen und Zierpflanzen aus, den Löwenanteil davon - 34,7 beziehungsweise 20,9 Prozent - allerdings für Schnittblumen und Beet- und Balkonpflanzen. Die Pro-Kopf-Ausgaben für blühende Zimmerpflanzen hingegen lagen bloß bei knapp 13 Euro, die für grüne Zimmerpflanzen bei rund fünf Euro.

Für die Branche ist das ein Grund zur Sorge. Die Alten, bisher die zuverlässigsten Pflanzenkäufer und Pflanzenkenner, sterben aus, die Jungen haben mit dem Grünzeug eher wenig am Hut. Da können noch so viele Lifestyle-Blogger ihre Blumentöpfe zu immer neuen Stillleben arrangieren, der Absatz stagniert. Man habe, so formuliert es die Marktexpertin Britta Tröster von der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft, "verschlafen, den Verbraucher mitzunehmen".

Der Kunde hat in der Regel keine Ahnung, was eine Bromelie von einer Sukkulente oder einer Gesnerie unterscheidet. Er kauft, was billig ist und neu. Also: neue Farben, neue Formen, am besten nie gesehene Arten für kleines Geld. Das ist noch nicht alles. Die Pflanzen sollen außerdem haltbar sein, pflegeleicht und - der neueste Trend - mehr draufhaben als nur dastehen und hübsch aussehen. Man soll sie möglichst auch riechen oder sogar essen können. Mit anderen Worten: Der Kunde wünscht sich zwar Natur im Haus, aber bitte schön eine, die speziell für seinen Geschmack und Lifestyle designt wurde.

Bunnik, der Züchter - zweifacher Vater, Halbglatze, kariertes Hemd - ist kein Mann der großen Worte. Aber seitdem er und seine Geschwister Björen und Carly den Familienbetrieb übernommen haben und in der dritten Generation führen, ist er entschlossen, einiges anders zu machen als sein Vater und sein Großvater. Das bedeutet vor allem: Weil sich der Kunde nicht mehr wie früher mit dem herkömmlichen Sortiment zufrieden gibt, entwickelt der Züchter nun eben exakt das Produkt, das der Kunde verlangt. Und nun, an diesem milden Tag im Spätherbst, ist es so weit: Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Bunnik mit der Presse spricht, er will der Journalistin aus Deutschland seine neue Wunderpflanze präsentieren: eine Ananas.

Bunniks neue Wunderpflanze: Ananas. Der Züchter präsentiert natürlich kein herkömmliches Bromeliengewächs, sondern eine Miniaturausgabe mit fingerdickem Stengel. (Foto: bloomingsolutions)

Keine normale Ananas natürlich, sondern eine Miniaturausgabe, die auf einem fingerdicken Stängel thront. Sobald die golfballgroße Frucht reif ist, soll sie aromatisch duften. Und zwar einige Wochen lang. Das ist die Idee von Bunnik, dem Züchter: Wer sich seine Neu-Kreation zulegt, kauft nicht nur eine trendgerechte, anspruchslose und haltbare Zierpflanze; er kauft sich seinen 100 Prozent natürlichen Raumbedufter gleich mit dazu. Parfümkerzen und Raumsprays kann man sich auf diese Weise sparen.

Natürlich hat Bunnik seinen geruchslosen Bromelien die duftenden Früchte nicht irgendwie angehext. Die Ananas gehört zur Familie der Bromeliengewächse, obwohl sie völlig anders aussieht als etwa eine Vriesea oder Guzmania. Ursprünglich war sie in Amerika heimisch, inzwischen wird sie als Obstpflanze in allen möglichen tropischen Gegenden der Welt angebaut. Damit die Ananas allerdings für die heimische Fensterbank taugt, musste sie gründlich umgestaltet werden: "Wir haben eine kleine, kompakte Version gezüchtet. Auch die Stacheln an den Blättern sind weg", erzählt Bunnik. Er deutet auf die glatten Ränder der Blätter seiner neuen Ananas-Bromelie: "Es hat zehn Jahre gedauert, bis wir so weit waren." Nach fünf weiteren Jahren kann die Pflanze nun im großen Stil angebaut werden. Nächstes Jahr soll sie großflächig auf den Markt kommen.

Die Pflanzenzucht ist ein bedächtiges Geschäft. Die Natur arbeitet nach ihren eigenen Gesetzen, das lässt sich nur schlecht mit der Schnelllebigkeit von Konsum-Trends vereinbaren. Will niemand mehr Gelb oder sind auf einmal filigrane Silhouetten gefragt, können Kleidungshersteller oder Autobauer schnell reagieren. Aber was macht ein Züchter? Er muss seine Pflanzen Hunderte Male miteinander kreuzen und sehen, ob zufällig etwas dabei herauskommt, das dem Zeitgeist entspricht. Dafür braucht man Geduld. Auch wenn eine Zierpflanze heutzutage wie ein industriell hergestelltes Massenprodukt wirkt, sie bleibt doch hartnäckig immer auch ein Stück Natur.

Direkt hinter der vollautomatischen Sortiermaschine und dem Gerät, das die Jungpflanzen eintopft, hat sich Bunniks Schwester Carly ein professionelles Fotostudio eingerichtet, außerdem stehen dort palettenweise Übertöpfe in allen möglichen Farben und Formen. Das mache sonst kein anderer Züchter, erzählen sie, aber die Geschwister aus Aalsmeer haben verstanden: Ein innovatives Produkt allein genügt heutzutage nicht mehr, um Erfolg zu haben. Es muss schon auch entsprechend inszeniert werden. Also haben sie in Eigenregie sechs "Lifestyle-Typen" samt den dazugehörigen Einrichtungsvorlieben identifiziert und verkaufen ihre Pflanzen nun auch komplett mit Übertöpfen und allerlei anderem Zubehör in den entsprechenden Looks.

Im Kleinen machen die Bunniks das, was im Großen längst in den Händen professioneller PR-Strategen liegt. Die ziehen hinter den Kulissen die Strippen und versuchen mit ausgefeilten Marketingstrategien, den Verbraucher zu beeinflussen. Die holländischen Blumen- und Pflanzenzüchter betreiben zu diesem Zweck das "Blumenbüro Holland", für die deutschen Erzeuger erledigen Initiativen wie "1000 gute Gründe", "Da blüh ich auf" oder das "Grüne Medienhaus" diesen Job. Wer also glaubt, er sei von alleine auf die Idee gekommen, zum Beispiel Kakteen gut zu finden, der täuscht sich gewaltig. Diese plötzliche Vorliebe wurde subtil gesteuert. Was etwa in der Mode schon lange üblich ist, funktioniert auch für das vermeintliche Naturprodukt Pflanze.

"Mein Vater hält uns für verrückt", sagt Bunnik und hält eine mit roter Glitzerfarbe besprühte Guzmania hoch, die in einem ebenfalls rot glitzernden Übertopf steckt. "Zu Weihnachten laufen die wahnsinnig gut." Er hat auch eine Halloween- und eine Valentinstag-Version im Angebot, dazu kommen die Ensembles für den sogenannten guten Geschmack. "Green Rituals" heißt eines davon, es setzt auf warme Farben und Naturmaterialien. Damit können sich auch gehobene Lifestyle-Blogger anfreunden - und die Hipster-Kundschaft.

Ananas ohne Stacheln - das ist das neueste Produkt aus der Bromelienzucht von Siegfried Bunnik. (Foto: Bloomingsolutions)

Seine neue Ananas-Bromelie sieht Bunnik übrigens auch in diesem Segment. Dass die Ananas das Mode-Accessoire dieser Saison und auf T-Shirts, Jutebeuteln oder als Porzellanminiatur omnipräsent war, macht dem Züchter so richtig gute Laune: "Das zeigt, dass wir den richtigen Riecher hatten." Er wird sie auch nicht an Discounter verkaufen, sondern an den Fachhandel. Sein Baby soll schließlich nicht das Schicksal der Phalaenopsis-Orchidee ereilen: Einst war sie ein exklusives Produkt, um das sich die Käufer rissen. Als dann der Markt damit überschwemmt wurde, litt auch der Ruf - der Hype war vorbei.

Zurück in seinem zweckmäßig eingerichteten Büro wird Bunnik ernst: "Es gab Jahre, da hatte ich Angst, dass wir nicht überleben würden." Pflanzen sind zu einem Mitnahmeartikel geworden, den man sich zusammen mit ein paar Tüten Milch und dem Klopapier in den Einkaufswagen lädt. Parallel dazu wird der Onlinehandel immer wichtiger, doch für Pflanzen ist er eher ungeeignet. Außerdem erweist sich ausgerechnet die auf Nachhaltigkeit bedachte moderne Architektur als Feind der Zimmerpflanze: Seitdem bodentiefe Fenster in Neubauten Standard sind, gibt es kaum noch Fensterbänke - der klassische Stellplatz für grüne Mitbewohner aller Art.

In jüngster Zeit ist Bunnik aber optimistischer: "Den Menschen ist bewusst geworden, dass Pflanzen einen Ausgleich zur Hektik des Alltags bieten. Außerdem besitzen sie luftreinigende Eigenschaften." Er zieht eine noch nicht publizierte Studie der State University of New York in Oswego hervor. Deren Ergebnis: Zimmerpflanzen - allen voran Bromelien - können die zum Teil erhebliche Schadstoffbelastung in Innenräumen vermindern. "Ein großartiges Thema", freut sich Bunnik.

Eines Tages kamen die Mäuse und knabberten die Ananas an. Da halfen nur noch Schlangen ...

Die Natur ist eben immer für Überraschungen gut. Manchmal auch für welche der weniger schönen Sorte: Mäuse. Angelockt von ihrem süßen Duft, knabberten sie die Früchte der Ananas-Bromelie an. Chemie kam nicht infrage, in der Branche verzichtet man heutzutage weitgehend auf Schädlingsbekämpfungsmittel. Auch weil der Verbraucher es so wünscht. Also kaufte Bunnik 80 Schlangen, eine heimische, ungefährliche Art. Sie kamen in einem Pappkarton bei ihm an, er öffnete ihn, und die Schlangen verschwanden in den Weiten seines konstant auf 22 Grad Celsius geheizten Gewächshauses. "Keine Ahnung, wo die jetzt sind, niemand hat sie mehr gesehen", sagt der Züchter und grinst, "aber das Mäuseproblem haben wir gelöst."

Bald kommen die Lkw, dann wird sich zeigen, ob die Ananas im Bonsai-Format zum neuen Star der Fensterbänke wird.

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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